7. September 2009

Bombardierte Tanklastzüge, die Taliban, der deutsche Wahlkampf. Und zivile Opfer. Eine gespenstische Diskussion. Hintergründe

Es ist gespenstisch.

Seit Wochen wurde eine Aktion militanter Islamisten erwartet mit dem Ziel, den deutschen Wahlkampf zu beeinflussen. In der Nacht vom vergangenen Freitag auf Samstag sollte ein solcher Anschlag offenbar versucht werden. Das Ziel war möglicherweise das deutsche Feldlager in Kundus. Der Anschlag konnte dadurch vereitelt werden, daß die für für seine Ausführung vorgesehenen Tank- Lastzüge rechtzeitig bombardiert wurden.

Und wovon ist in der deutschen Öffentlichkeit die Rede? Nicht von den Taliban, nicht von dem verhinderten Anschlag; schon gar nicht von dem Zusammenhang mit dem deutschen Wahlkampf. Sondern fast ausschließlich von den Zivilisten, die wahrscheinlich bei der Bombardierung ums Leben gekommen sind.

Der deutsche kommandierende Offizier, Oberst Georg Klein, durch dessen Entscheidungen ein möglicher Anschlag verhindert wurde, wird nicht etwa belobigt, sondern die Staatsanwaltschaft Potsdam prüft allen Ernstes, ob gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts eingeleitet werden wird.



Was hat sich zugetragen?

Taliban wollten vermutlich - so schildert es jedenfalls Verteidigungsminister Jung - einen Anschlag auf das deutsche Feldlager in Kundus verüben, "mit entsetzlichen Folgen für unsere Soldaten". Dazu brachten sie zwei Tank- Lastzüge in ihre Gewalt. Sie hatten eine scheinbare Kontrollstation eingerichtet, dort die Lastzüge abgefangen und deren Fahrer geköpft.

Einzelheiten des weiteren Geschehens hat die Washington Post zu recherchieren versucht und das Ergebnis gestern publiziert. Das Wichtigste aus diesem Artikel hat gestern "Spiegel- Online" übernommen.

Heute bringt die Washington Post allerdings einen weiteren Artikel der AP-Korrespondenten Douglas Birch, Kay Johnson, Melissa Eddy und Frank Jordans, der deutlich vorsichtiger formuliert ist als der Artikel von gestern.

Nach dem, was derzeit bekannt ist, scheint der Ablauf der folgende gewesen zu sein:

Die gekaperten Tank- Lastzüge wurden aus der Luft geortet - entweder von patrouillierenden US-Jets oder von einem B-1-Bomber, den Oberst Klein angefordert hatte; da gehen die Meldungen auseinander.

Zur genaueren Beobachtung wurden zwei F-15E-Jäger eingesetzt. Bilder aus deren Videokameras wurden an das deutsche Hauptquartier gefunkt. Was genau auf diesen Bildern zu sehen war, ist umstritten. Es heißt einerseits, es seien Bewaffnete mit Panzerfäusten zu sehen gewesen; jedoch ist andererseits bisher offen, ob die Bilder scharf genug waren, um solche Details zu erkennen.

Zusätzlich zu diesen Bildern hatten die deutschen Kommandeure die Aussage eines Informanten zur Verfügung, die - so sagte Oberst Klein - bis ins Detail mit den Informationen aus den Luftaufnahmen übereinstimmten. Dieser Informant versicherte, es seien nur Taliban bei den Tank- Lastzügen, die in einem Flußbett festsaßen.

Daraufhin forderte Klein die Bombardierung an. Auf jeden der beiden Tank- Lastzüge wurde eine satellitengesteuerte 500- Pfund- Bombe abgeworfen.

Inzwischen steht fest, daß sich auch Zivilisten bei den beiden Fahrzeugen befunden hatten. Warum, ist unklar. Möglicherweise wollten einige sich Benzin verschaffen, andere waren vielleicht nur Neugierige. Es gibt Berichte, wonach die Taliban Dorfbewohner mit vorgehaltener Waffe gezwungen hatten, sich zu den Fahrzeugen zu begeben, um dabei zu helfen, sie wieder flott zu bekommen.

Die Zahl der bei dem Angriff Getöteten und Verletzten ist derzeit unbekannt. Schätzungen liegen zwischen etwas über 50 und mehr als 120. Ob unter den Getöteten Zivilisten sind und wenn ja, wieviele, ist ebenfalls bisher nicht ermittelt.

Soweit die Fakten, die für so viel Aufregung sorgen, daß selbst ein bedächtiger Mann wie Volker Rühe von einem "Desaster" spricht.

Woher kommt diese Aufgeregtheit? Der Vorfall steht in mindestens zwei allgemeineren Kontexten. Erstens geht es um die strategische Situation und die Zusammenarbeit zwischen den Verbündeten in Afghanistan, zweitens um den Wahlkampf in Deutschland.



Als sich noch unter der rotgrünen Regierung Deutschland zu einem militärischen Beitrag in Afghanistan entschloß - "aufraffte" ist vielleicht das treffendere Wort -, da geschah das unter der Illusion, dies sei kein Kampfeinsatz, sondern eine Art militärisch umrahmte Entwicklungshilfe. Man hatte sich den damals ruhigen Norden des Landes ausgesucht. Dort sollten die Soldaten Brunnen graben und Schulen errichten; allenfalls derartige Maßnahmen militärisch absichern. Ungefähr so, wie der Polizist an der Ecke dafür sorgt, daß in seinem Revier niemand Dummheiten macht.

Lange Zeit schien das auch zu funktionieren, denn die neu erstarkten Taliban konzentrierten sich zunächst auf den Süden, wo sie eher als im Norden auf Sympathie der Bevölkerung rechnen konnten. Als aber durch die Offensiven vor allem der US-Truppen die Lage im Süden für sie immer brenzliger wurde, wichen viele nach Norden aus. Und damit hatte die Bundeswehr sie auf dem Hals.

Seither ist der Einsatz der Bundeswehr allmählich zu einem Kampfeinsatz geworden; ungewollt und ohne volle Unterstützung durch die deutsche Politik. Lange Zeit war es den deutschen Soldaten verboten, überhaupt von sich aus offensiv zu werden. Es gab groteske Situationen; wie etwa die, daß man sich dem Feind sozusagen präsentierte, um ihn zum Angriff zu veranlassen und auf diesem Weg selbst die Erlaubnis zu haben, ihn zu bekämpfen.

Dieses Verhalten, für das unsere Soldaten selbst am allerwenigsten können, hat ihnen bei den anderen Truppen in Afghanistan einen schlechten Ruf eingebracht; den Ruf von, um es direkt zu sagen, Duckmäusern. In dem gestrigen Artikel der Washington Post heißt es dazu:
German troops have long been criticized for restrictions that limit the battle their troops see. A U.S. based military analyst, Anthony Cordesman, said German troops don't have "the situational and combat experience" to confront Taliban on the ground. "They're as oriented toward staying in their armored vehicles as any group I've met," Cordesman said. "They're not active enough to present much of a threat to the Taliban most of the time."

Die deutschen Truppen werden seit langem wegen Einschränkungen kritisiert, die dazu führen, daß sie nur begrenzt in Kämpfe geraten. Ein Militär- Analytiker in den USA, Anthony Cordesman, meinte, die deutschen Truppen hätten "nicht die Situations- und Kampferfahrung", um den Taliban auf dem Boden entgegenzutreten. "Sie sind so darauf ausgerichtet, in ihren gepanzerten Fahrzeugen zu verbleiben, wie ich es nur je bei einer Gruppe erlebt habe", sagte Cordesman. "Sie sind nicht aktiv genug, um in der Regel für die Taliban eine Gefahr zu sein".
Diese Spannungen zwischen den deutschen und den verbündeten Truppen sind der eine Aspekt der Situation in Afghanistan, der den jetzigen Vorfall so brisant macht. Offenbar hat man beim US-Militär den Eindruck, die Deutschen wollten selbst nicht kämpfen, würden aber schon gern US-Flugzeuge anfordern, um den Job für sie zu tun.

Der zweite Aspekt ist die Änderung der Afghanistan- Strategie, die Präsident Obama verordnet hat; siehe Präsident Obamas verwirrende Strategie für Afghanistan; ZR vom 31.3.2009. Es ist keine klare Strategie; aber sie enthält zumindest Elemente von counterinsurgency; also dem Versuch, nicht nur militärisch gegen den Aufstand vorzugehen, sondern auch die hearts and minds, das Herz und den Verstand der Bevölkerung zu gewinnen.

Dazu gehört, daß der mit der Ausführung dieser Strategie beauftragte General Stanley McChrystal strikte Richtlinien zur Vermeidung ziviler Opfer erlassen hat. Diese gelten zwar nur für den Beschuß und die Bombardierung von Gebäuden; insofern war die Bombardierung der Tank- Lastzüge kein formaler Verstoß. Aber ganz offenbar ist McChrystal doch wütend über den Vorfall; zumal die Bundeswehr nicht in der vorgeschriebenen Weise sofort durch Entsendung von Bodentruppen untersucht hat, welches die Folgen des Bombardements waren.

Aus dieser Lage in Afghanistan erklärt sich die angespannte diplomatische Situation, die zum heutigen Titel der Washington Post geführt hat: "US-German rift emerges over Afghan deaths case" - wegen der Toten in Afghanistan werde ein Riß zwischen den USA und Deutschland sichtbar.



Der zweite Kontext, in dem man den Vorfall sehen muß, sind die bevorstehenden Wahlen. Es gibt seit Monaten Hinweise darauf, daß die Kaida versuchen wird, im Vorfeld dieser Wahlen einen Anschlag zu verüben, dessen Ziel es ist, das Ergebnis zu beeinflussen. In Deutschland konnten die Sicherheitsbehörden das bisher verhindern. Die Vermutung liegt nahe, daß ein erfolgreicher Anschlag der Taliban auf das deutsche Feldlager in Kundus eine ähnliche Funktion erfüllt haben würde.

Terroristische Anschläge dienen selten dazu, den Gegner militärisch zu schwächen. In der Regel ist der Adressat die Öffentliche Meinung eines Landes, das den Terrorismus bekämpft; siehe Terrorismus als angewandte Psychologie; ZR vom 28.11.2008.

Die Kaida ist ausgezeichnet über die politische Situation in den wichtigsten Ländern Europas informiert. Mit den Anschlägen vom 11. März 2004 in Madrid gelang es ihr beispielsweise, die Wahlen in Spanien zu beeinflussen, was zum Abzug der spanischen Truppen aus dem Irak führte.

Auch jetzt könnte ein Anschlag in Deutschland oder auf deutsche Truppen in Afghanistan eine solche Wirkung haben. Zwar stehen mit Ausnahme der Kommunisten alle großen Parteien bisher zu den deutschen Verpflichtungen in Afghanistan. Aber bei der SPD und vor allem bei den Grünen gibt es Überlegungen, das alles neu zu überdenken.

Schließlich hatte man seinerzeit - siehe oben - für brunnengrabende Soldaten gestimmt, nicht für eine Truppe, die unter Kriegsbedingungen kämpfen muß. Gerhard Schröder, der weniger Rücksichten zu nehmen braucht als die aktiven Politiker der SPD, hat bereits das Thema eines Abzugs innerhalb einer festen Frist ins Spiel gebracht.

Da die Kommunisten ohnehin für einen sofortigen Abzug sind, dürfen sich die Taliban und die Kaida von einem Sieg der Volksfront am 27. September Vorteile versprechen. Ein Attentat auf deutsche Truppen mit zahlreichen Toten könnte in der Tat die Stimmung in Deutschland so beeinflussen, daß einer Volksfront- Regierung der Abzug leicht fallen dürfte; selbst wenn das bei den Verbündeten auf Widerstand stoßen würde. Die neugewählte sozialistische Regierung Spaniens hat 2004 im Irak vorgemacht, daß das geht.



Die Kommunisten jedenfalls haben schnell geschaltet und ihren Wahlkampf auf den Vorfall in Afghanistan eingestellt. Für morgen planen sie gar "Mahnwachen und Demonstrationen" gegen den deutschen Einsatz.

Ich fürchte, sie werden viele gutwillige Menschen erreichen, die zu Recht entsetzt sind, wenn Zivilisten in einem Krieg zu Schaden kommen.

Das ist eine sympathische menschliche Reaktion; aber sie sollte nicht handlungsleitend sein.

Es gibt keinen Krieg, in dem nicht auch Zivilisten zu Schaden kommen. So bedauerlich das ist, es ist nun einmal so. Daß immerhin versucht wird, zivile Opfer so weit wie möglich zu vermeiden, ist eine zivilisatorische Errungenschaft der Gegenwart; bisher im wesentlichen beschränkt auf die USA und Europa. Der Normalfall ist leider noch immer, daß gezielt Krieg gegen Zivilisten geführt wird; der Krieg der Kaida ist nahezu ausschließlich ein Krieg gegen Zivilisten.

Ob der Oberst Georg Klein nach den Informationen, die er hatte, davon ausgehen konnte, daß der angeforderte Angriff keine Zivilisten treffen würde, das wird die Untersuchung ergeben. Falls Zivilisten zu Tode kamen, sollte Deutschland den Angehörigen in aller Form sein Bedauern aussprechen und ihnen vor allem, wie das in Afghanistan erwartet wird, eine großzügige Entschädigung zahlen. Unsere Politik aber darf ein solcher Vorfall nicht beeinflussen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Taliban im Süden Afghanistans, aufgenommen im Dezember 2006. Als Werk der US-Regierung (Voice of America) in der Public Domain (Ausschnitt).