11. Juli 2008

Marginalie: Salamitaktik beim Staatsangehörigkeitsrecht?

Der Begriff "Salamitaktik" entstand zur Zeit des Kalten Kriegs und bezog sich auf die Art, wie sowjetische Politiker wie der Außenminister Molotow und sein Nachfolger Gromyko ihre Ziele verfolgten: Statt gleich aufs Ganze zu gehen, rangen sie ihren Kontrahenten scheibchenweise Zugeständnisse ab. Bis sie schließlich die ganze Wurst hatten.

Daran erinnert mich die jetzt neu eröffnete Debatte über das Staatsangehörigkeitsrecht.

Erinnern wir uns an Anfang 1999. Damals war die frisch gekürte rotgrüne Regierung dabei, auf allen Gebieten das per Gesetzgebung in die Tat umzusetzen, was man zu Oppositionszeiten schon immer gewollt, aber nicht gekonnt hatte. Logischerweise auch auf dem Gebiet von Multikulti.

Dort wollte man den Doppelpaß einführen: Die Regelung, wonach im Normalfall jemand, der die deutsche Staatsbürgerschaft erwirbt, seine bisherige Staatsangehörigkeit abgeben muß, sollte gekippt werden. Vor allem eingewanderte Türken sollten den Doppelpaß haben dürfen, auch wenn nicht - wie es bereits galt - eine besondere Härte vorlag, die das begründete.

Die Absicht der vorgesehenen Neuregelung war klar: Getreu der Multikulti- Ideologie wollten die Rotgrünen es eingewanderten Türken ermöglichen, die Vorteile einer deutschen Staatsbürgerschaft zu genießen, ohne daß sie sich hätten dafür entscheiden müssen, Deutsche zu werden. Man war ja gegen "Eindeutschung" und "Germanisierung".

Das aber wollte die Opposition aus Union und FDP nicht mitmachen. Sie war der Meinung, daß es jedem freisteht, ob er Deutscher werden will; daß er das aber, wenn er sich dafür entscheidet, auch wirklich wollen soll. Dazu gehört, daß er nicht zugleich Türke bleibt. So wurde damals argumentiert.



Nun hatten Anfang 1999, als die Frage zur Entscheidung anstand, die Union und die FDP zwar keine Mehrheit im Bundestag, aber eine im Bundesrat. Also konnten weder die Rotgrünen noch die Schwarzgelben sich durchsetzen.

In dieser Situation legte - Thomas Darnstädt hat es damals detailliert im "Spiegel" beschrieben - die FDP einen Kompromißvorschlag auf den Tisch: Das sogenannte Optionsmodell, auf das man sich dann auch einigte und das bis heute gilt.

Wird jemand als Kind eines ausländischen Staatsangehörigen, der hier (mindestens acht Jahre und mit Aufenthaltsrecht) lebt, in Deutschland geboren, dann erhält er - so sieht es diese gültige Regelung vor - zunächst beide Staatsbürgerschaften. Das war die rotgrüne Seite des Kompromisses.

Aber - das war dessen schwarzgelbe Seite - wenn der Betreffende mit 18 Jahren die Volljährigkeit erreicht hat, dann soll er sich entscheiden, ob er Deutscher oder Türke (oder was immer die andere Nationalität ist) sein will. Spätestens mit 23 Jahren muß er diese Entscheidung getroffen haben; sonst wird ihm die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen.

Über die Weisheit und juristische Qualität dieser Regelung kann man streiten; Darnstädt, promovierter Jurist, hat in dem damaligen Artikel zahlreiche Bedenken dagegen zusammengetragen. Es war halt ein Kompromiß, der einen fundamentalen Gegensatz zwischen Rotgrün und Schwarzgelb überbrücken sollte.

Einen Gegensatz, der ja weit über die technische Frage des Passes hinausreicht.

Im Kern geht es darum, ob man will, daß sich in Deutschland eine türkische Volksgruppe ansiedelt, die ihre türkische Identität behält; ob Deutschland also ein Zweivölkerstaat werden soll, in dem neben der deutschen Bevölkerung auf Dauer türkische Kolonien existieren.

Oder ob es das politische Ziel ist, daß die türkischen Einwanderer sich assimilieren; so wie einst die Hugenotten, so wie die Polen anfangs des 20. Jahrhunderts und später die Italiener, Griechen und Spanier, deren Nachkommen heute zwar ihre Traditionen bewahrt haben mögen, aber doch eine deutsche Identität haben.

Beides zugleich kann man nicht anstreben; insofern war der damalige Kompromiß notwendigerweise faul.

Ihn zu schließen hatte aber damals keine unmittelbaren Konsequenzen, denn die Regelung galt erst für nach dem 1.Januar 2000 Geborene. Allerdings gab es eine Zusatzregelung für Kinder, die nach dem 1. Januar 1990 geboren waren; auf Antrag konnten auch sie in den Genuß der neuen Rechtslage kommen, erhielten also zusätzlich zu ihrem ausländischen den deutschen Paß.



Hier nun liegt der Grund dafür, daß jetzt auf einmal wieder vom Doppelpaß und vom Optionsmodell gesprochn wird. Denn wer 1990 geboren wurde, der wird in diesem Jahr volljährig. Ab diesem Jahr tritt also der Fall ein, daß jemand die Entscheidung zwischen dem deutschen und dem ausländischen Paß treffen muß.

Die Debatte wird also neu aufgerollt. Die "Süddeutsche Zeitung schreibt:
Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, spricht sich für die Zulassung einer dauerhaften doppelten Staatsbürgerschaft aus. Die bisherige Lösung sei eine Zumutung: "Wir wollen das Optionsmodell lieber heute als morgen abschaffen", erklärte er. (...)

Auch der Vorsitzende des Bundestags- Innenausschusses, Sebastian Edathy (SPD), sieht die Optionspflicht für junge Erwachsene mit Doppelpass auf dem Prüfstand. Der Neuen Osnabrücker Zeitung sagte er, er könne sich nicht vorstellen, dass in den kommenden Jahren Hunderttausende junge Erwachsene zwangsausgebürgert werden sollten.
Nur war genau das der Inhalt des Kompromisses gewesen, dem die SPD ausdrücklich zugestimmt hatte. Es gebe "nur die Kompromißlösung oder keine" hatte damals der Kanzler Schröder erklärt.



Mag sein, daß das damals ein schlechter Kompromiß war, wie Darnstädt meinte. Mag sein, daß man ihn also neu verhandeln sollte.

Aber eine Änderung kann doch nicht darin bestehen, daß sich jetzt die eine Seite durchsetzt, die damals mit ihren Vorstellungen nicht zum Zug gekommen war. Heute wie damals haben weder Rotgrün noch Schwarzgelb eine Mehrheit. Heute wie damals müssen sich die Union und die SPD auf einen Kompromiß einigen, wenn sie denn die jetzige Regelung ändern wollen.

Aber seltsam - nur die SPD, nur die mit ihr in dieser Frage verbündeten türkischen Verbände fordern eine Änderung. Die CDU hingegen scheint froh zu sein, den Kompromiß zu haben. Noch einmal die "Süddeutsche Zeitung":
Wiefelspütz stellte sich damit gegen die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), die das Optionsmodell ausdrücklich verteidigt hatte und Kritik von türkischen Organisationen zurückgewiesen hatte.
Wenn die Union, statt ihrerseits wieder das zu fordern, was sie eigentlich gewollt hatte - überhaupt kein Doppelpaß -, sich jetzt mit dem Kompromiß begnügt und wenn die SPD andererseits ihre eigene ursprüngliche Forderung wieder auf den Tisch legt, dann ist absehbar, was passieren wird: Man wird einen Kompromiß zwischen dem Kompromiß und der SPD-Forderung suchen. Wenn nicht gleich dieser nachgeben.

Eine weitere Scheibe ist dann von der Salami abgeschnitten.



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