4. Mai 2008

Wir Achtundsechziger (6): Die Nachkriegskinder. Eine moralisch-hedonistische Generation wendet sich gegen eine skeptische Generation

In den bisherigen Folgen dieser Serie habe ich die Perspektive eines Erzählers eingenommen; desjenigen, der diese Zeit der Achtundsechziger erlebt hat und der nun darauf zurückblickt. Jetzt will ich mich damit befassen, warum das eigentlich so war.

Warum was eigentlich wie war?

Erstens, warum es um die Wende zu den siebziger Jahren eine weltweite Welle von Unruhen gab, deren Träger junge Menschen waren (sagen wir, zwischen 15 und 25 Jahren).

Zweitens, warum diese Jugendbewegung in Deutschland gerade diejenigen Formen annahm, die ich in den früheren Folgen skizziert habe - vom fröhlichen Aufbruch über das Abgleiten in Lächerlichkeit und Autoritätswahn bis hin zu der Entmischung in den Siebzigern, die aus den ehemaligen Genossen wohlbestallte linksliberale Akademiker hat werden lassen, verbohrte Kommunisten, grüne Erretter der Welt, zynische Mörder und Terroristen.



Daß es manchmal dem Verständnis für geschichtliche Bewegungen auf die Beine hilft, wenn man in Generationen denkt, habe ich das erste Mal verstanden, als ich eine Bemerkung von Arno Schmidt über die Romantiker gelesen habe: Das sei eine von Revolutionen, Krieg und ständigen Unruhen geschüttelte Generation gewesen, die sich ihre Welt der Märchen, des Mittelalters, der reinen Poesie als Gegenentwurf zu der üblen Realität geschaffen hatte, in der sie hatte aufwachsen müssen. (Aktuell und mit vielen Einzelheiten kann man das in Rüdiger Safranskis schönem Buch über die Romantik lesen).

Seither habe ich es immer einmal wieder nützlich gefunden, mir solche kollektiven Erfahrungen einer Generation vor Augen zu führen und mich zu fragen, was sie für die Ereignisse einer Epoche bedeutet haben könnten; kürzlich zum Beispiel in Bezug auf die Frage, warum jüngere Amerikaner Barack Obama und ältere Hillary Clinton bevorzugen.

Wie war das bei den Achtundsechzigern? Nehmen wir das Jahr 1970 als Bezugsjahr. Nehmen wir an, daß diese Unruhigen damals im Schnitt zwanzig Jahre waren. Dann waren das die Geburtsjahrgänge um 1950 herum, plus minus vielleicht fünf Jahre.

Eine Generation mit der prägenden Erfahrung - nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Weltgegenden - eines unaufhörlichen Friedens. Mit der Erfahrung, daß alles immer besser wurde.

Im freien Teil Europas entstand die friedliche, ökonomisch ungemein erfolgreiche "Nachkriegsordnung", die sich auf Kapitalismus, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gründete. In den USA erholte man sich, wie auch in Europa, von den Lasten des Zweiten Weltkriegs; nach 1953 auch denen des Korea-Kriegs, der dessen letzter Ausläufer gewesen war.

Wer das Pech hatte, in einem der von den Kommunisten eroberten Länder oder Landesteile zu leben, hatte daran nur wenig Anteil. Aber immerhin, wenn man auch nicht frei war, so herrschte doch nicht mehr der nackte Terror, wie unter Stalin. Wenn man auch den Wohlstand, der sich in den kapitalistischen Ländern entwickelte, nur mit neidischem Staunen sehen konnte, so ging es doch auch unter den Kommunisten zumindest nicht ökonomisch bergab.

Und selbst im armen China, das durch den Bürgerkrieg ausgepowert war, setzte nach der Flucht der legalen Regierung Tschiang Kai Tscheks, nach der Machtübernahme Maos so etwas wie eine Zeit des Wiederaufbaus ein. Das Niveau war im Machtbereich des Kommunismus nicht mit dem in der freien Welt zu vergleichen; aber die Richtung war dieselbe: Es wurde besser, mit der Aussicht auf sich immer weiter verbessernde Lebensverhältnisse.



So wuchsen wir Achtundsechziger auf. In einer Zeit des ständigen Fortschritts, der in allen Lebensbereichen mit Händen zu greifen war.

Ich habe das sehr intensiv erlebt. In den ersten Nachkriegsjahren lebte die ganze Familie in einem einzigen Raum, notdürftig durch Bretterwände unterteilt. Meine Eltern gingen "Ähren lesen", nachdem die Felder abgeerntet waren, und wir Kinder sammelten im Herbst Bucheckern, weil die nahrhaft waren. Aber schon 1950 hatten wir wieder ein Auto, natürlich einen VW, dann eine Wohnung, dann ein ganzes Haus. Meine Großmutter kam eines Tages begeistert nach Hause: Sie hatte beim Bäcker den ersten "Blätterteig" seit dem Krieg gesehen. Das war für sie das Zeichen, daß es jetzt wieder voran ging.

So ging das immer weiter für diese Generation. Als man erwachsen geworden war, hatte man eine Kindheit und Jugend hinter sich, die nur eine Richtung gekannt hatte: Alles war immer besser, immer reicher, immer bequemer geworden. Der Frieden war eine selbstverständliche Konstante, die Freiheit war eine Konstante. Der Wohlstand war es gerade nicht. Er war ständig gewachsen, und dieses Wachstum war freilich eine Konstante gewesen; die erste Ableitung sozusagen war stabil geblieben.

Ja, hätte eine solche Generation denn nicht allen Grund gehabt, zufrieden zu sein, ihren Eltern dankbar für das, was sie geleistet hatten, dem Kapitalismus dankbar für den Wohlstand, den er ermöglicht hatte, dem demokratischen Rechtsstaat für die Freiheit, die er garantierte? Auf den ersten Blick scheint es, daß die Kindheits- und Jugenderfahrungen dieser Generation eine Aufruhr gerade nicht rechtfertigten, daß also das generationsbezogene Erklärungsmodell sich als untauglich erweist.

Warum waren die Achtundsechziger so undankbar, das von ihren Eltern und Großeltern Geleistete nicht anzuerkennen? Warum waren sie so realitätsblind, von einem sozialistischen Wolkenkuckucksheim zu träumen, statt sich an der realen Freiheit und dem realen Wohlstand zu erfreuen, in denen sie leben durften?



Karl Marx erklärte revolutionäre Situationen daraus, daß sich ein Widerspruch zwischen Produktivkräften und den Verhältnissen in der Gesellschaft entwickelt hätte: "Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein", schreibt er in der "Kritik der politischen Ökonomie".

Wie vieles, was sich Marx ausdachte, war das an der Französischen Revolution orientiert, wo in der Tat die Herrschaft des Adels zu einer Fessel für die Industrialisierung geworden war; wo die Befreiung des Bürgertums in der Tat große Produktivkräfte freigesetzt hatte.

Für die Situation um 1970 herum ist dieses Erklärungsmodell offensichtlich ganz und gar ungeeignet.

Denn erstens waren die revolutionären Tendenzen nicht gegen eine herrschende Klasse gerichtet, sondern ihre Träger waren die Kinder der Wohlhabenden, während die Arbeiter ihnen (mit wenigen Ausnahmen, wie kurzzeitig in Frankreich) ablehnend gegenüberstanden.

Zweitens war damals der Kapitalismus nicht nur keine Fessel der Produktivkräfte, sondern gerade im damaligen Kapitalismus entwickelten diese sich bestens; das Kommunikations- und Computerzeitalter stand ja vor der Tür.

Und drittens waren die revolutionären Tendenzen, die es damals zweifellos gab, nicht auf eine Befreiung der Produktivkräfte von Fesseln gerichtet, sondern ganz im Gegenteil auf deren Fesselung. Die "Grenzen des Wachstums" war der Titel des vermutlich einflußreichsten Buchs der siebziger Jahre, des "Berichts des Club of Rome". Wenn man damals von "Nullwachstum" sprach, dann meinte man nicht eine Stagnation des BSP, sondern einen erstrebenswerten Zustand, in dem die Wirtschaft allenfalls noch "qualitativ" wachsen sollte.

Kurz - es ging 1968 nicht, wie 1789, um mehr Brot und weniger Steuern, sondern man wollte mehr Steuern, damit der Staat dieses Geld umverteilen konnte, und man wollte die Menschen davon überzeugen, daß Brot nicht alles ist. Vom "Konsumterror" wollte man sie befreien, die Mitmenschen.

Diese (versuchte, freilich steckengebliebene und letztlich gescheiterte) Revolution war in der Tat eine "Kulturrevolution", keine Revoiution mit materiellen Zielen. Sie war die Revolution nicht einer Klasse, sondern einer Generation. Ihr Ziel war es nicht, das Los der Menschen zu verbessern, sondern diese selbst zu besseren Menschen zu machen.



Und doch paßt Marx' Revolutionstheorie in gewisser Weise auf diese revolutionäre Stimmung der Achtundsechziger. Zwar hatten sich Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte nicht auseinanderentwickelt. Aber in anderer Hinsicht gab es doch so etwas wie eine Ungleichzeitigkeit, und es gab auch eine Fesselung aufgrund dieser Ungleichzeitigkeit.

Was sich auseinanderentwickelt hatte, das waren die Lebensverhältnisse und die herrschende Moral. Diese Moral - die Moral der Väter, der Großväter - entsprach nicht mehr den Verhältnissen, in denen die Nachkriegsgeneration aufgewachsen war. Sie wurde deshalb von dieser als eine Fessel empfunden.

Wie 1789 erzeugte das dieses Lebensgefühl: Werft die Fesseln ab! Erstreitet euch eure Freiheit! Nur war es nicht eine Klasse, die dieses Lebensgefühl hatte, sondern eine Generation; nur war die erstrebte Freiheit nicht die, seine Träume von dem Weg aus der Armut in den Wohlstand zu verwirklichen, sondern es war die Freiheit, "sich selbst zu verwirklichen".



Die herrschende Moral ist nicht, wie Marx meinte, die Moral der Herrschenden (die halten sich oft gerade nicht an die herrschende Moral). Sondern es ist die Moral der Generation der Väter, der Großväter. Von ihnen lernt die junge Generation, was gut ist und was böse, was man darf und was nicht, was anständig ist und was unanständig.

In relativ stabilen Zeiten funktioniert diese Weitergabe der Moral ohne Probleme; auch wenn ein wenig Aufmüpfigkeit zum Erwachsenwerden gehört. Aber wenn die Zeiten, in denen die ältere Generation lebte und sich behaupten mußte, sich radikal von denen unterscheiden, in denen die jüngere aufwächst, dann erscheint diese überkommene Moral als nicht mehr legitimiert.

Das war um 1970 herum weltweit der Fall; und hier liegt die Wurzel dieser weltweiten Jugendrevolte.

Die Generationen der Väter und der Großväter hatten fast vierzig Jahre lang - von 1914 bis zum Anfang der fünfziger Jahre - in Zeiten des Kriegs, der Wirren, der Armut, der Unterdrückung zurechtkommen müssen. Das konnte man nur mit "Sekundärtugenden", die damals eben alles andere als sekundär gewesen sind - Fleiß, Disziplin, Gehorsam, vor allem auch Anpassung.

Diese Tugenden waren es auch, die den schnellen Aufstieg nach 1950 ermöglichten. Ein solches "Goldenes Zeitalter" findet man oft nach dem Ende von Kriegswirren, weil dann alle diese Tugenden in den Dienst friedlicher Zwecke gestellt werden können.

Es war, mit Freud gesprochen, eine Zeit, in der das Realitätsprinzip eisern geherrscht hatte; in der dem Lustprinzip, angesichts einer harten Realität, nur wenig Spielraum gelassen werden konnte. Eine "skeptische Generation" hat der Soziologe Helmut Schelsky diese Generation der Väter und Mütter der Achtundsechziger genannt - desillusioniert, realitätsnah, ohne Flausen im Kopf.

Der Frieden, der wachsende Wohlstand, die Freiheit in der Epoche, in der die Achtundsechziger aufwuchsen, ermöglichten aber just solche Flausen. Sie ermöglichten ein lustvolleres Leben, ein weniger von Mühsal geprägtes Leben als das der Eltern und Großeltern. Und sie ermöglichte zugleich den Luxus einer sozusagen höheren, einer altruistischeren, einer gewissermaßen edleren Moral als die der Sekundärtugenden.

Für die Eltern und Großeltern hatte die moralische Anforderung gelautet, die eigene Familie durch schwere Zeiten zu bringen, dafür fleißig, diszipliniert und genügsam zu sein. Die Achtundsechziger konnten sich eine Moral leisten, die das Glück der Menschen in Vietnam und überhaupt weltweit, die ein "entfremdetes Leben" für alle, die "Freiheit von Ausbeutung" zum Inhalt hatte.

Es war eine infantile Moral, eine zugleich hedonistische und überstrenge Moral; eine Moral, die alles forderte und alles beanspruchte. Aus ihr leitete sich das ab, was an der Oberfläche die Zeit der Achtundsechziger so widerspruchsvoll machte - der Traum vom einfachen Leben ebenso wie das Engagement für die "Befreiungskämpfe in der Dritten Welt", die versponnen Lehren der Kathedersozialisten ebenso wie die blutige Praxis der RAF.



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