25. März 2008

Gibt es einen freien Willen, ja oder nein? Bitte entscheiden Sie sich für eine Antwort, bevor Sie diesen Artikel lesen!

Sie haben sich entschieden? Sie haben sich dafür entschieden, daß es einen freien Willen gibt? Oder haben Sie sich dafür entschieden, daß es keinen freien Willen gibt; daß wir vollständig determiniert sind? Oder haben Sie vielleicht mein Ansinnen, sich zu entscheiden, als eine Zumutung empfunden, sind in Reaktanz gegangen und haben sich entschlossen, die Antwort zu verweigern?

Wie auch immer Ihre Entscheidung ausgefallen ist - offensichtlich haben Sie sie frei getroffen.

Oder hatten Sie den Eindruck, sie unter Zwang zu treffen? Ich hoffe nicht. Wenn doch, dann würde ich Ihnen empfehlen, einen Psychiater aufzusuchen. Aus freien Stücken. Bevor es zu spät ist und etwa jemand auf den Gedanken kommt, Sie wegen einer schweren anankastischen Störung einem Psychiater vorzustellen. Ohne Ihren Willen, vielleicht gegen Ihren Willen.



Nehmen Sie mir diese harten Worte nicht übel, liebe Leser. Ich möchte Sie ja nur auf etwas aufmerksam machen, Sie sozusagen mit der Nase darauf stoßen, was wir alle wissen, außer einigen Philosophen und Neuro- Wissenschaftlern: Wir können, solange wir gesund sind, gar nicht existieren, ohne ständig von unserem freien Willen Gebrauch zu machen.

An seiner Existenz zu zweifeln ist ungefähr so begründet, als würden wir daran zweifeln, daß es Wasser gibt, von dem doch unsere körperliche Existenz abhängt. Just so ist unsere psychische Existenz als menschliche Individuen ohne einen freien Wille nicht möglich.

Schön und gut, werden Sie vielleicht sagen. Na und? Natürlich sind wir frei. Wo ist das Problem?

Das Problem ist, daß der freie Wille nicht in das wissenschftliche Weltbild paßt. Er paßt nicht in ein Weltbild, das sich dermaßen bewährt hat und sich sozusagen minütlich weiter bewährt, daß es nachgerade ein Akt des Mutwillens wäre, es an dieser entscheidenden Stelle zu durchbrechen.

Der freie Wille paßt nicht in das wissenschaftliche Weltbild. Denn dieses Weltbild basiert auf der Überzeugung von der kausalen Geschlossenheit der Welt. Kausale Geschlossenheit, das heißt: Was in der Welt passiert, das hat seine Ursachen auch in dieser Welt, und in ihr allein. Niemand greift da von außen ein.

Kein Gott greift ein in diese Welt, die nach ihren Gesetzen, den Naturgesetzen, funktioniert. Und ebensowenig ein Mensch, wenn er sich entscheidet, etwas zu tun oder zu lassen. Wo kämen wir da hin?

In Teufels Küche kämen wir. Oder wir würden bei Heinz Erhard landen, der - er spielt in dem betreffenden Film einen Ehemann, der scheinbar in flagranti ertappt wird - den schönen Satz findet: "Im Leben geht alles natürlich zu. Nur die Hose geht natürlich nicht zu".



Also, wir haben da ein Problem. Die tägliche Erfahrung sagt uns, daß wir uns frei entscheiden können. Die Wissenschaft sagt uns, daß die Welt kausal geschlossen ist. Kein Platz für den Willen, der ja immer auch ein Moment der Willkür hat. Des Willkürlichen also, des nicht Gesetzmäßigen. In der Natur aber herrschen Gesetze.

Es gibt ein Dilemma der Willensfreiheit, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Moment, Moment, höre ich Sie da murmeln. Wovon Sie hier schreiben, lieber Zettel, das ist die klassische Mechanik; das ist so verstaubt wie Ihre Metapher mit der Maus und dem Faden. Den Laplace'schen Dämon haben Sie vor Augen, der immerhin zweihundert Jahre auf dem Buckel hat. Das ist doch Schnee von gestern, billigster Determinismus.

"Quantenmechanik!" möchten Sie mir vielleicht zurufen.

Tja, die Quantenmechanik. Ich glaube, es war der deutsche Physiker Pascual Jordan, der als erster den Gedanken hatte, die Willensfreiheit mit Hilfe der Quantenmechanik zu retten. Heute gibt es ein sehr rühriges und sehr gut mit Forschungsmitteln ausgerüstetes Grüppchen um den Physiker Roger Penrose und den Anästhesie- Arzt Stuart Hameroff, das sich auf den Spuren des Quantum Mind wähnt, der Quantenseele.

Vielleicht ist es die richtige Spur. Vorläufig weiß das niemand, weil die Belege für die Richtigkeit der Theorie von Penrose und Hameroff gegen Null tendieren. Aber nehmen wir einmal an, sie hätten Recht - würde uns das aus dem Dilemma der Willensfreiheit befreien?

Leider überhaupt nicht. Denn innerhalb der Quantenmechanik ist das Gegenteil von Determinismus Zufall. Der "Ort" eines Teilchens ist, bis es beobachtet wird, eine Wahrscheinlichkeitsfunktion. Also eigentlich gar kein Ort. Erst im Augenblick der Beobachtung - vielleicht auch in anderen Fällen ("objective reduction" oder "self-collapse", meinen Penrose und Hameroff) - "bricht sie zusammen", diese Wellenfunktion. Und aus ihrem Kollaps geht der Ort eines Teilchens hervor, den wir messen können.

Für die Willensfreiheit bringt uns das exakt nichts.

Sie besteht ja nicht darin, daß wir uns zufällig verhalten, sondern daß wir uns frei und verantwortlich entscheiden können. Würde - was die meisten Physiker wohl nicht glauben - die Quantenmechanik sich irgendwie auch auf der Makro- Ebene unseres Denkens, Entscheidens, Verhaltens auswirken, dann bliebe die kausale Geschlossenheit der Welt dennoch erhalten. Kausal geschlossen ist auch eine Welt, in der es auf einer bestimmten Ebene probabilistisch zugeht.



In Frage gestellt wird diese kausale Geschlossenheit der Welt durch Willensfreiheit. Dadurch, daß - sagen wir - mein Finger eine Taste drückt, wenn ich es will. Etwas Mentales soll, so suggeriert es uns unser Konzept von Willensfreiheit, etwas Physisches bewirken. Mentale Verursachung also; der verlinkte Wikipedia- Artikel ist kompetent geschrieben und detailliert.

Dieser mentale Akt liegt nicht nur außerhalb dessen, was wir naturwissenschaftlich erfassen können, sondern - schlimmer - er ist völlig überflüssig. Denn daß ich den Buchstaben tippe, das kann der äußere Beobachter vollständig und befriedigend als Resultat der vorausgehenden Prozesse in meinem Gehirn erklären; vor allem derjenigen im motorischen Kortex, die im EEG mit dem sogenannten Bereitschafts- Potential einhergehen.

Diese Prozesse aber spielen sich natürlich - ganz natürlich! - innerhalb der kausal geschlossenen Welt ab. Sie sind die Folge von Ereignissen, sie sind die Ursache von Ereignissen. Freiheit gibt es da nicht.

Es sind die vorausgehenden Vorgänge im Gehirn, die dazu führen, daß zum Zeitpunkt x mein Finger die Taste drückt; diese allein. So sagt es uns die naturwissenschaftliche Sicht, so paßt es in deren millionenfach bewährtes Weltbild. Wenn es bei diesem Vorgang (wenn ich ihn denn "willentlich" auslöse; etwa so, wie wenn Sie jetzt das Lesen unterbrechen und sich entschließen, den Buchstaben Q zu tippen) einen Vorausgehenden "freien Entschluß" gibt, so ist dieser allenfalls ein Epiphänomen.

Es gibt das halt. Es begleitet die Prozesse, die dem Vorgang vorausgehen. Eine Laune der Natur. "Kausale Kraft" (causal power) hat es nicht. So wenig, wie der König, der im "Kleinen Prinzen" einen Asteroiden bewohnt, die Sonne wirklich nach Belieben aufgehen lassen kann; auch wenn er das dem Kleinen Prinzen versichert. Sicherheitshalber wartet er bis jeweils zur Morgendämmerung, bevor er diesen Befehl erteilt.



Also ist das Bewußtsein der Willensfreiheit nur eine Täuschung? Wissen wir am Ende selbst nicht, warum wir etwas tun? Sind wir Marionetten, die in der Illusion leben, sie selbst und nicht der Puppenspieler bewegten ihre Glieder?

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn die Sache mit dem Epiphänomen ist aus zwei Gründen unbefriedigend.

Erstens ist damit nicht erklärt, warum wir denn dieses Bewußtsein der Willensfreiheit haben, wenn es diese gar nicht gibt: Wirklich eine Laune der Natur als Ergebnis einer Evolution, die doch stets nur das funktionell Zweckmäßige weiterbestehen läßt?

Und zweitens wäre dies eine seltsame Illusion - eine nämlich, die überhaupt nicht durch Aufklärung zu beseitigen wäre. Versuchen Sie einmal, es Theoretikern wie dem deutschen Neurobiologen Wolf Singer abzunehmen, daß Ihr freier Wille eine Illusion ist. Es geht nicht. Wenn Sie jetzt den Entschluß fassen, diesen Text nicht weiterzulesen - oder ihn weiterzulesen, was mich ja freuen würde -, dann ist es aus mit der Illusion von der Illusion. Sie haben sich frei entschieden.

Die Willensfreiheit ist also ein Dilemma. Aber das heißt ja nicht, daß man nicht herauskommen könnte aus dem Dilemma.

Die Wissenschaft leistet so etwas immer wieder. Das Zenon'sche Paradox von Achilles und der Schildkröte verschwand mit der Erfindung der Infinitesimalrechnung. Licht - das sind zugleich Wellen und Partikel; für die Quantenmechanik kein Dilemma. Warum soll die Wissenschaft nicht auch eine Lösung für das Dilemma des Bewußtseins der Willensfreiheit finden?

Daß wir überhaupt in der Lage sind, die mit Bewußtsein einhergehenden Vorgänge im Gehirn auch nur ansatzweise zu messen, ist ja kaum ein paar Jahrzehnte her. Die Forschung, aus der vielleicht einmal ein naturwissenschaftliches Verständnis der Willensfreiheit hervorgehen wird, ist jetzt nicht älter als die Physik zur Zeit Newtons.

Vielleicht wird es einmal gelingen, die Willensfreiheit und die kausale Geschlossenheit der Welt miteinander in Einklang zu bringen. Vielleicht aber auch nicht. Velleicht müssen wir uns - das war die Meinung Kants - damit zufriedengeben, daß im einen Kontext (dem der Erkenntnis, der "reinen Vernunft") das eine und im anderen Kontext (dem der Ethik, der "praktischen Vernunft") das andere gilt. Das ist alles beim heutigen Stand unseres Unwissens noch offen.

Erstaunlich viele Menschen - darunter auch viele Philosophen, viele Neurobiologen und Kognitionsforscher - glauben allerdings, sie wüßten, wie es denn mit der Willensfreiheit bestellt ist.

Die einen sind so felsenfest von der "Existenz der Willensfreiheit" überzeugt, wie die anderen diese bestreiten. Vor ein paar Jahren wurde diese Kontroverse in Deutschland gar in Form von regelrechten Manifesten (PDF) ausgetragen; siehe auch hier.



Bei so viel Gewißheit auf der einen wie der anderen Seite tut es gut, einen Wissenschaftler zu vernehmen, der sich zu der Unwissenheit bekennt, in der wir uns nun einmal in Bezug auf das Dilemma der Willensfreiheit befinden.

John Searle ist einer der angesehendsten amerikanischen Philosophen. Das Interview, das Christine Brinck für die heutige FAZ mit ihm führte, hat mich zu diesem Beitrag veranlaßt.

Man darf sich John Searle nicht wie einen deutschen Philosophie- Professor vorstellen. Er wirkt, wenn er einen Vortrag hält oder auf einer Konferenz diskutiert, eher wie eine Mischung aus Wanderprediger und Conferencier. Ein lebhafter, ja leidenschaftlich kritischer Denker; ein Mann mit der Neigung, wie der Junge in "Des Kaises neue Kleider" zu sagen, daß der Kaiser nackt ist.

Und er sagt das deutlich, dröhnend und fröhlich.

Mit diesr Art wurde er berühmt, als er 1980, mitten in der Begeisterung über die Künstliche Intelligenz, von der sich viele damals eine Lösung des Bewußtseins- Problems versprachen, mit seinem Artikel über das "Zimmer des Chinesischen" dieser Euphorie einen kräftigen Dämpfer verpaßte.

In dem Interview mit Christine Brinck ist Searle munter und angriffslustig wie eh und je. Ich empfehle sehr die Lektüre.

Und wenn Sie Zeit haben, lesen Sie bitte auch die Kommentare von Lesern. Sie zeigen, wie schlau offenbar Laien auf einem Gebiet sind, auf dem die Wissenschaft - wenn sie ehrlich ist, wie John Searle - noch so ratlos ist.

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