Lieber Leser, wir machen jetzt einen Assoziationstest. Ganz schnell: Nennen Sie spontan die Stammtisch- Weisheit über Politik, die Ihnen als erste in den Sinn kommt!
Sie haben "Die Politiker lügen"? Prima. Gratuliere. Sie haben Ihr Ohr am Mund des Volkes. Sie wissen, was auch noch der Doofste über "die Politiker" weiß.
Im aktuellen "Spiegel" (9/2008) darf ein Autor namens Franz Walter die gesamte Seite 22 damit füllen, diese Stammtisch- Weisheit auszubreiten.
In zwei Punkten allerdings unterscheidet sich Bruder Franz von den anderen Stammtischbrüdern.
Erstens redet er gebildet daher. Dazu ist er verpflichtet, denn er ist Professor.
Also sagt er nicht: "Die Politiker lügen, diese Gauner, diese dreckerten", sondern er schreibt:
Nicht nur breitet er das, was diese auch wissen, aber kürzer sagen können, so geschwätzig aus, als hätte er bei Adorno studiert. Sondern er findet es vor allem gut, daß die Politiker lügen. Da geht er einen Schritt weiter als seine Brüder an den Stammtischen, wenn diese sich über die Lügen der Politiker empören.
Franz Walter empört sich nicht. Im Gegenteil: Er schnalzt sozusagen mit der Zunge, wenn er schreibt: "Nehmen wir Konrad Adenauer, Charles de Gaulle oder Otto von Bismarck - sie alle waren große Lügner vor dem Herrn".
Ja toll. Der Stammtisch darf sich freuen: Wußten wir's doch!
Was ist ärgerlicher an diesem - ja was? Essay? Kommentar? "Kasten"? Ist es die Art, wie da ein Autor einen einzigen Gedanken auf Seitenformat dehnt? Ist es der armselige Gehalt dieses Gedankens, der ungefähr so viel mit wissenschaftlicher Politologie zu tun hat wie die Weisheit "Alles ist relativ" mit der Relativitätstheorie?
Oder ist es die Weise, wie Walter seine Meinung zu einer aktuellen innenpolitischen Frage ins Bedeutend- Allgemeine hebt?
Denn er schreibt ja nicht deshalb etwas über die Lüge in der Politik, weil das doch mal gesagt werden mußte. Sondern er schreibt - der "Kasten" ist ja nicht zufällig in den Artikel über Becks "Wende zur Linkspartei" eingerückt - als flankierende Maßnahme zu dem, was er vor ein paar Tagen in "Spiegel Online" geschrieben hat.
Dort begeisterte er sich für "Becks Korrektur der alten Schwüre, von der Linken nicht einmal einen Kanten alten Brots anzunehmen". Die SPD dürfe "ein 'Rien ne va plus' in der Koalitionsbildung nicht noch durch Prinzipiendogmatismus und starre Abgrenzungsformeln festigen. Eine solche Partei muß sich intelligent, auch unorthodox bewegen, muß Optionen nutzen."
Mit anderen Worten, sie muß vor der Wahl lügen. Und damit wir alle verstehen, daß das auch gut so ist, will Franz Walter uns jetzt erklären, daß derartige Lügnerei nun mal zum Wesen des Politischen gehört. Jener Franz Walter, der schon vor fast einem Jahr ein "rot- rot- grünes Bündnis" als eine der Möglichkeit für die Regierungsbildung 2009 ins Spiel gebracht hat.
Ein Politologe also, dem man sicher kein Unrecht tut, wenn man vermutet, daß er - Mitglied der SPD seit 1972 - seine politischen Präferenzen nicht verbirgt. Daß er nicht nur mit dem kühlen Blick des Wissenschaftlers, sondern auch mit dem heißen Herzen des politisch Engagierten an seinen Gegenstand herantritt.
In diesem Fall freilich nicht sehr nah an ihn herantritt. Denn was er über das Lügen in der Poltitik schreibt, hat eben nur Stammtisch- Niveau. Machiavelli im Comic- Format. Am Ende hat der die Nase vorn, der die anderen am besten übers Ohr haut.
Nur ist das ja nicht so. Was einen Wissenschaftler interessieren sollte, das ist die Frage, warum nicht ständig gelogen wird, obwohl es doch scheinbar für den Lügner nur vorteilhaft ist. Das ist die Frage nach der Evolution sozialen Verhaltens, nach der Notwendigkeit des Vertrauens für das Zusammenleben.
Eine Gesellschaft, deren führende Mitglieder sich so benehmen würden, wie Walter sich die Politik vorstellt, wäre nicht lebensfähig. Warum Gesellschaften trotzdem funktionieren, warum man dem Wort des anderen in der Regel vertrauen darf, darüber hat sich schon David Hume Gedanken gemacht. Die moderne Spieltheorie - beispielsweise die Forschungen des Nobelpreisträgers Robert Aumann zu wiederholten Spielen - befaßt sich damit.
Ein Kernbefund, auf den diese Theorien aufbauen, ist die Änderung des Verhaltens, wenn Spiele sich wiederholen: Wer am Anfang betrügt, der kann einen Vorteil haben. Aber der andere merkt das ja irgendwann. Je öfter ein Spiel wiederholt wird, umso weniger zahlt sich also Betrug aus. Am Ende gewinnt der Zuverlässige, nicht der Lumpenhund. Jedenfalls in der Regel. Jedenfalls, nachdem das Spiel hinreichend oft wiederholt wurde und jeder weiß, wie er den Mitspieler einzuschätzen hat.
So ist es auch in der Politik. Man kann vielleicht ein, zweimal lügen und davonkommen. Wer notorisch lügt, dem geht es - jedenfalls in einem demokratischen Rechtsstaat - wie Richard Nixon.
Große Staatsmänner waren deshalb, entgegen Walters Vermutung, keineswegs Lügner. Sie wußten, daß sie nur dann Erfolg haben konnten, wenn ihr Wort galt; wenn andere sich auf sie verlassen konnten. Denn wer sein Wort bricht - was ist dessen Wort noch wert? Wer sich nicht an Zusagen hält - wozu mit dem Betreffenden überhaupt noch verhandeln, um Zusagen von ihm zu bekommen?
Selbst von Adolf Hitler hat der britische Ministerpräsident Chamberlain erwartet, daß er sich an seine Zusagen von München 1938 halten würde. Er war - Churchill schildert das ausführlich im ersten Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs - regelrecht entrüstet, als sich herausstellte, daß Hitler ihn belogen hatte. Wozu hatte man dann überhaupt verhandelt?
Natürlich gehört zum Politischen das, was die Kunst der klassischen Diplomatie ausmacht: Seine Ziele nicht immer offenzulegen. Bündnisse zu wechseln, wenn die Situation es verlangt. Es gehört "Öffentlichkeitsarbeit" dazu, wie sie Bismarck mit seiner verkürzten Mitteilung über die Emser Depesche perfekt vorgeführt hat.
Aber das ist etwas anderes als Wortbruch. Es ist etwas vollkommen anderes, als ein Versprechen zu geben und sich dann nicht daran zu halten. Sei es die Zusagen gegenüber einem Verhandlungspartner. Sei es eine Garantie, wie sie Frau Ypsilanti ihren Wählern gegeben hat.
Was Walter an historischen Beispielen anführt, belegt überhaupt nicht seine These.
Nehmen wir Willy Brandt, dessen schnellen Vorstoß zur Bildung der sozialliberalen Koalition in der Wahlnacht des 28. September 1969 Walter am Ende seines Textes ausführlich darstellt; wohl in der Hoffnung, etwas vom Glanz Brandts auf Kurt Beck zu lenken. Hat Brandt sein Wort gebrochen, als er die Koalition mit Walter Scheel schmiedete? Hatte er den Wählern eine Garantie gegeben, in keiner Form mit der FDP zusammenzuarbeiten?
Nein. Im Gegenteil: Brandts Parteifreund Gustav Heinemann, zu dessen Wahl zum Bundespräsidenten sich bereits im März 1969 SPD und FDP verbündet gehabt hatten, sprach wenige Tage nach seiner Wahl von einem "Stück Machtwechsel (...) Das ist hier nicht in breiter Front der Fall, das wird sich erst bei den Bundestagswahlen ergeben." Deutlicher konnte er nicht sagen, daß die SPD eine Koalition mit der FDP anstrebte.
Als Willy Brandt in der Wahlnacht die Weichen für diese Koalition stellte, statt langwierige Verhandlungen in den nachfolgenden Tagen abzuwarten, handelt er geschickt. Er hat weder gelogen noch ein gegebenes Wort gebrochen, nicht einmal im Ansatz.
Oder nehmen wir Konrad Adenauer, den Walter für einen großen Lügner hält. In Wahrheit war er einer der verläßlichsten Politiker seiner Zeit. Die Geradelinigkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, machte ihn zu einem starken Partner des Westens; viel stärker, als es dem tatsächlichen Gewicht der anfangs noch nicht souveränen Bundesrepublik entsprach.
Er war so vertrauenswürdig, der Alte Herr, daß er es sich leisten konnte, über seine rheinische Listigkeit selbst Witze zu machen. "Wie mein Freund Pferdmenges unterscheide ich drei Steigerungen der Wahrheit: Die einfache, die reine und die lautere Wahrheit. Ich will Ihnen jetzt die reine Wahrheit sagen ...", soll er einmal zum Besten gegeben haben.
Und zum Schluß noch ein Zitat:
Schau an, schau an. Wer schrieb das? Sie werden es ahnen, lieber Leser; denn sonst hätte ich es ja nicht zitiert: Diesen schönen langen Satz schrieb, vor gut einem Jahr, Franz Walter.
Sie haben "Die Politiker lügen"? Prima. Gratuliere. Sie haben Ihr Ohr am Mund des Volkes. Sie wissen, was auch noch der Doofste über "die Politiker" weiß.
Im aktuellen "Spiegel" (9/2008) darf ein Autor namens Franz Walter die gesamte Seite 22 damit füllen, diese Stammtisch- Weisheit auszubreiten.
In zwei Punkten allerdings unterscheidet sich Bruder Franz von den anderen Stammtischbrüdern.
Erstens redet er gebildet daher. Dazu ist er verpflichtet, denn er ist Professor.
Also sagt er nicht: "Die Politiker lügen, diese Gauner, diese dreckerten", sondern er schreibt:
Irreführung, Maskerade, das glanzvolle Theater verlangen weit mehr Geschick, Raffinesse, Phantasie als die komplexitätsscheue Wahrheitsliebe und die orthodoxe Werktreue.Oder, auch schön:
Ein Stratege operiert geheim; er täuscht, legt falsche Spuren, hebt Fallgruben aus, lauert hinter Hecken. Ein Stratege und großer Politiker muß - ja, er muß - zuweilen Potemkinsche Dörfer errichten, ohne Skrupel von links nach rechts und zurück rochieren, mindestens den Gegner durch falsche Ankündigungen in die Irre führen.Er muß, meint der Autor Walter. Und da haben wir den zweiten Punkt, in dem er sich von seinen Brüdern an den Stammtischen unterscheidet:
Nicht nur breitet er das, was diese auch wissen, aber kürzer sagen können, so geschwätzig aus, als hätte er bei Adorno studiert. Sondern er findet es vor allem gut, daß die Politiker lügen. Da geht er einen Schritt weiter als seine Brüder an den Stammtischen, wenn diese sich über die Lügen der Politiker empören.
Franz Walter empört sich nicht. Im Gegenteil: Er schnalzt sozusagen mit der Zunge, wenn er schreibt: "Nehmen wir Konrad Adenauer, Charles de Gaulle oder Otto von Bismarck - sie alle waren große Lügner vor dem Herrn".
Ja toll. Der Stammtisch darf sich freuen: Wußten wir's doch!
Was ist ärgerlicher an diesem - ja was? Essay? Kommentar? "Kasten"? Ist es die Art, wie da ein Autor einen einzigen Gedanken auf Seitenformat dehnt? Ist es der armselige Gehalt dieses Gedankens, der ungefähr so viel mit wissenschaftlicher Politologie zu tun hat wie die Weisheit "Alles ist relativ" mit der Relativitätstheorie?
Oder ist es die Weise, wie Walter seine Meinung zu einer aktuellen innenpolitischen Frage ins Bedeutend- Allgemeine hebt?
Denn er schreibt ja nicht deshalb etwas über die Lüge in der Politik, weil das doch mal gesagt werden mußte. Sondern er schreibt - der "Kasten" ist ja nicht zufällig in den Artikel über Becks "Wende zur Linkspartei" eingerückt - als flankierende Maßnahme zu dem, was er vor ein paar Tagen in "Spiegel Online" geschrieben hat.
Dort begeisterte er sich für "Becks Korrektur der alten Schwüre, von der Linken nicht einmal einen Kanten alten Brots anzunehmen". Die SPD dürfe "ein 'Rien ne va plus' in der Koalitionsbildung nicht noch durch Prinzipiendogmatismus und starre Abgrenzungsformeln festigen. Eine solche Partei muß sich intelligent, auch unorthodox bewegen, muß Optionen nutzen."
Mit anderen Worten, sie muß vor der Wahl lügen. Und damit wir alle verstehen, daß das auch gut so ist, will Franz Walter uns jetzt erklären, daß derartige Lügnerei nun mal zum Wesen des Politischen gehört. Jener Franz Walter, der schon vor fast einem Jahr ein "rot- rot- grünes Bündnis" als eine der Möglichkeit für die Regierungsbildung 2009 ins Spiel gebracht hat.
Ein Politologe also, dem man sicher kein Unrecht tut, wenn man vermutet, daß er - Mitglied der SPD seit 1972 - seine politischen Präferenzen nicht verbirgt. Daß er nicht nur mit dem kühlen Blick des Wissenschaftlers, sondern auch mit dem heißen Herzen des politisch Engagierten an seinen Gegenstand herantritt.
In diesem Fall freilich nicht sehr nah an ihn herantritt. Denn was er über das Lügen in der Poltitik schreibt, hat eben nur Stammtisch- Niveau. Machiavelli im Comic- Format. Am Ende hat der die Nase vorn, der die anderen am besten übers Ohr haut.
Nur ist das ja nicht so. Was einen Wissenschaftler interessieren sollte, das ist die Frage, warum nicht ständig gelogen wird, obwohl es doch scheinbar für den Lügner nur vorteilhaft ist. Das ist die Frage nach der Evolution sozialen Verhaltens, nach der Notwendigkeit des Vertrauens für das Zusammenleben.
Eine Gesellschaft, deren führende Mitglieder sich so benehmen würden, wie Walter sich die Politik vorstellt, wäre nicht lebensfähig. Warum Gesellschaften trotzdem funktionieren, warum man dem Wort des anderen in der Regel vertrauen darf, darüber hat sich schon David Hume Gedanken gemacht. Die moderne Spieltheorie - beispielsweise die Forschungen des Nobelpreisträgers Robert Aumann zu wiederholten Spielen - befaßt sich damit.
Ein Kernbefund, auf den diese Theorien aufbauen, ist die Änderung des Verhaltens, wenn Spiele sich wiederholen: Wer am Anfang betrügt, der kann einen Vorteil haben. Aber der andere merkt das ja irgendwann. Je öfter ein Spiel wiederholt wird, umso weniger zahlt sich also Betrug aus. Am Ende gewinnt der Zuverlässige, nicht der Lumpenhund. Jedenfalls in der Regel. Jedenfalls, nachdem das Spiel hinreichend oft wiederholt wurde und jeder weiß, wie er den Mitspieler einzuschätzen hat.
So ist es auch in der Politik. Man kann vielleicht ein, zweimal lügen und davonkommen. Wer notorisch lügt, dem geht es - jedenfalls in einem demokratischen Rechtsstaat - wie Richard Nixon.
Große Staatsmänner waren deshalb, entgegen Walters Vermutung, keineswegs Lügner. Sie wußten, daß sie nur dann Erfolg haben konnten, wenn ihr Wort galt; wenn andere sich auf sie verlassen konnten. Denn wer sein Wort bricht - was ist dessen Wort noch wert? Wer sich nicht an Zusagen hält - wozu mit dem Betreffenden überhaupt noch verhandeln, um Zusagen von ihm zu bekommen?
Selbst von Adolf Hitler hat der britische Ministerpräsident Chamberlain erwartet, daß er sich an seine Zusagen von München 1938 halten würde. Er war - Churchill schildert das ausführlich im ersten Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs - regelrecht entrüstet, als sich herausstellte, daß Hitler ihn belogen hatte. Wozu hatte man dann überhaupt verhandelt?
Natürlich gehört zum Politischen das, was die Kunst der klassischen Diplomatie ausmacht: Seine Ziele nicht immer offenzulegen. Bündnisse zu wechseln, wenn die Situation es verlangt. Es gehört "Öffentlichkeitsarbeit" dazu, wie sie Bismarck mit seiner verkürzten Mitteilung über die Emser Depesche perfekt vorgeführt hat.
Aber das ist etwas anderes als Wortbruch. Es ist etwas vollkommen anderes, als ein Versprechen zu geben und sich dann nicht daran zu halten. Sei es die Zusagen gegenüber einem Verhandlungspartner. Sei es eine Garantie, wie sie Frau Ypsilanti ihren Wählern gegeben hat.
Was Walter an historischen Beispielen anführt, belegt überhaupt nicht seine These.
Nehmen wir Willy Brandt, dessen schnellen Vorstoß zur Bildung der sozialliberalen Koalition in der Wahlnacht des 28. September 1969 Walter am Ende seines Textes ausführlich darstellt; wohl in der Hoffnung, etwas vom Glanz Brandts auf Kurt Beck zu lenken. Hat Brandt sein Wort gebrochen, als er die Koalition mit Walter Scheel schmiedete? Hatte er den Wählern eine Garantie gegeben, in keiner Form mit der FDP zusammenzuarbeiten?
Nein. Im Gegenteil: Brandts Parteifreund Gustav Heinemann, zu dessen Wahl zum Bundespräsidenten sich bereits im März 1969 SPD und FDP verbündet gehabt hatten, sprach wenige Tage nach seiner Wahl von einem "Stück Machtwechsel (...) Das ist hier nicht in breiter Front der Fall, das wird sich erst bei den Bundestagswahlen ergeben." Deutlicher konnte er nicht sagen, daß die SPD eine Koalition mit der FDP anstrebte.
Als Willy Brandt in der Wahlnacht die Weichen für diese Koalition stellte, statt langwierige Verhandlungen in den nachfolgenden Tagen abzuwarten, handelt er geschickt. Er hat weder gelogen noch ein gegebenes Wort gebrochen, nicht einmal im Ansatz.
Oder nehmen wir Konrad Adenauer, den Walter für einen großen Lügner hält. In Wahrheit war er einer der verläßlichsten Politiker seiner Zeit. Die Geradelinigkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, machte ihn zu einem starken Partner des Westens; viel stärker, als es dem tatsächlichen Gewicht der anfangs noch nicht souveränen Bundesrepublik entsprach.
Er war so vertrauenswürdig, der Alte Herr, daß er es sich leisten konnte, über seine rheinische Listigkeit selbst Witze zu machen. "Wie mein Freund Pferdmenges unterscheide ich drei Steigerungen der Wahrheit: Die einfache, die reine und die lautere Wahrheit. Ich will Ihnen jetzt die reine Wahrheit sagen ...", soll er einmal zum Besten gegeben haben.
Und zum Schluß noch ein Zitat:
Überdies hat der Wettbewerbs- und Entstrukturierungsfuror der Deutungseliten nach zwei Jahrzehnten der diskursiven Hegemonie nicht nur zu wünschenswerten Deregulierungen verknöcherter Bürokratien und zu einem löblichen Anstieg selbstverantwortlicher Individualität geführt, sondern eben auch zu einer massiven Denunziation und Entwertung sozialstaatlicher Normen - wie Fairness, Ausgleich, Integration, Verknüpfung, Zusammenhalt, Solidarität - sowie zu einer Destruktion sozialstaatlicher, klassenintegrierender, Bindungen stiftender Institutionen.Wenn man sich an diesem Lindwurm eines deutschen Satzes entlanggearbeitet hat und bis ungefähr zum Ansatz des Schwanzes gekommen ist, dann erfährt man: Modernen Gesellschaften fehlt es an Fairness.
Schau an, schau an. Wer schrieb das? Sie werden es ahnen, lieber Leser; denn sonst hätte ich es ja nicht zitiert: Diesen schönen langen Satz schrieb, vor gut einem Jahr, Franz Walter.
Mit Dank an Enha. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.