2. November 2007

Marginalie: Der bedrohte Äbbelwoi. Eine philosophisch-psychologische Überlegung

In Brüssel gibt es den Entwurf einer Verordnung, mit der es verboten werden soll, den Apfelwein noch Apfelwein zu nennen. "Wein" soll nur noch der Traubenwein heißen dürfen.

Das schreibt heute die FAZ, und dazu berichtet sie ausführlich über den Sturm der Entrüstung, den das - parteiübergreifend, von der CDU bis zu den Grünen - in Hessen und speziell in Frankfurt ausgelöst hat. In Frankfurt, wo der Äbbelwoi bekanntlich das Nationalgetränk ist.



Wie eine solche EU-Verordnung aussieht, das kann man sich hier anschauen und es sich, wenn man denn mag, auf der Zunge zergehen lassen.

Nun gut, Juristerei. Nur - wer läßt sie aus dem Gatter, diese furchtbaren Juristen, die sich nachgerade darin suhlen, alles und jedes ihrem Regulierungsdrang zu unterwerfen? Wie muß ein Gehirn gewickelt sein, in dem der Gedanke sich entfalten kann, daß man den Apfelwein nicht mehr Apfelwein nennen dürfen soll?

Gewiß gibt es Regelungen über die Bezeichnung von Lebensmitteln, die nachvollziehbar sind. Wenn auf einer Flasche "Orangensaft" steht, dann sollte der Verbraucher schon sicher sein können, daß darin kein mit chemischen Aromen, Farbe und Zucker versetztes Wasser ist. Wenn er, laut Etikett, eine Dose "italienische Tomaten" ersteht, dann sollte er sich darauf verlassen können, daß diese Tomaten nicht in einem holländischen Gewächshaus gezogen wurden.

Da geht es darum, Betrug zu unterbinden. Aber es ist ja kein Betrug, Apfelwein Apfelwein zu nennen.

Könnte ein Verbraucher wegen des Wortteils "-wein" auf den Gedanken kommen, es handle sich um Traubenwein? Offenbar nicht, denn der andere Wortteil sagt ihm ja, daß das nicht der Fall ist. Und sofern es sich um auf Flaschen gezogenen Apfelwein handelt, prangt zusätzlich in der Regel ein Apfel oder prangen Äpfel auf dem Etikett.



Also, was geht in den Gehirnen der Bürokraten vor, die sich so etwas ausdenken?

Ich weiß es nicht. Aber ich habe eine Idee, eine Spekulation, eine wilde Hypothese:

Ich stelle mir einen Bürokraten vor, der in Brüssel sitzt und die Welt zu ordnen versucht.

Sie ist unordentlich, diese Welt, in der er leben muß. Begriffe werden unscharf verwendet. Schöne, sanft gebogene Früchte heißen ebenso "Bananen" wie krumme und schiefe Kümmerlinge. Es gibt Wiener Würstchen, die gar nicht aus Wien kommen. Das deutsche Bier schmeckt anders als das belgische. Die Baguette gar wird in Deutschland aus Mehl Typ 405 oder 505 gebacken, in Frankreich aber aus Typ 630.

Kurzum - Unordnung, Unschärfe, ein Durcheinander, wohin er auch blickt, der Bürokrat.

Aber er hat seinen Schliff auf der ENA bekommen, der École Normale d'Administration, unser Bürokrat. Dort hat man ihm eingebleut und eingetrichtert, daß die Welt cartesianisch rational ist. Daß sie geordnet ist, klar und distinkt.

Und daß dort, wo es in dieser Hinsicht Mängel gibt, es seine, des Bürokraten, Aufgabe ist, Abhilfe zu schaffen.



Es ist eine große Aufgabe, eine Aufgabe von fast metaphysischer Dignität, die ihm gestellt ist, dem Bürokraten: Ordnung schaffen. Wo Es war, soll Ich werden. Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe. Kultivierung des Urwalds, Beseitigung von Wildwuchs.

Solch ein Wildwuchs ist der "Apfelwein". Wild gewachsen ist diese Bezeichung, vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden. Als Äppelwoi, Äbbelwoi, Ebbelwoi oder auch -wei, wie immer man es verschriftlicht.

Nicht im klaren, distinkten Frankreich ist das geschehen, sondern in Deutschland. In Hessen, wo das "Wirtshaus im Spessart" steht und wo in Niederzwehren die Viehmännin den Brüdern Grimm ihre Märchen erzählte.

Da mußte Ordnung rein. So wie er seinen Schreibtisch wohlgeordnet hält wie Gärtner die Umgebung des Schlosses von Versailles, so will er auch lateinische Klarheit in die Welt der Getränke bringen, der Bürokrat.

Das muß man doch verstehen.

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