6. August 2007

Von kleinen Eichmanns, edlen Dschihadisten und gefälschten Daten. Eine sehr amerikanische Geschichte

Auf den Fall bin ich durch einen Kommentar von Gregory Rodriguez in der "Los Angeles Times" vom 3l. Juli aufmerksam geworden. Es ist der Fall Ward Churchill.

Interessierten Zeitungslesern in den USA dürfte der Fall seit Jahren geläufig sein. Genauer: Seit 2003. Damals publizierte Ward Churchill ein Pamphlet über den Anschlag auf das World Trade Center mit demTitel "Some People Push Back: On the Justice of Roosting Chickens".

Wörtlich übersetzt heißt das: "Manche Leute schlagen zurück. Über die Gerechtigkeit des Bratens von Hähnchen".

Die Metapher des Hähnchen- Bratens hat Ward Churchill einer Bemerkung des extremistischen schwarzen Politikers Malcolm X entnommen, der den Tod von Präsident Kennedy zynisch mit dem Satz kommentierte, daß das halt ein Beispiel dafür sei, wie Hähnchen heimkehren, um gebraten zu werden.



Die "Brathähnchen" in dem Pamphlet von Churchill sind die Opfer des Anschlags auf das World Trade Center vom 11. September 2001. Über sie schreibt er (Hervorhebung von mir):
True enough, they were civilians of a sort. But innocent? Gimme a break. They formed a technocratic corps at the very heart of America's global financial empire – the "mighty engine of profit" to which the military dimension of U.S. policy has always been enslaved – and they did so both willingly and knowingly. Recourse to "ignorance" – a derivative, after all, of the word "ignore" – counts as less than an excuse among this relatively well-educated elite. To the extent that any of them were unaware of the costs and consequences to others of what they were involved in – and in many cases excelling at – it was because of their absolute refusal to see. (...) If there was a better, more effective, or in fact any other way of visiting some penalty befitting their participation upon the little Eichmanns inhabiting the sterile sanctuary of the twin towers, I'd really be interested in hearing about it.

Sicherlich, sie waren eine Art Zivilisten. Aber unschuldig? Momentchen mal. Sie bildeten ein Corps von Technokraten im Herzen des weltweiten Finanz- Imperiums der USA - der "gewaltigen Profitmaschine", der die militärische Dimension der US-Politik schon immer sklavisch unterworfen war -, und sie waren das sowohl willig als auch wissentlich. "Ignoranz" für sich zu reklamieren - ein Wort, das schließlich von "ignorieren" kommt - kann bei dieser relativ gut ausgebildeten Elite überhaupt nicht als Entschuldigung gelten. Sofern irgend jemand von ihnen sich nicht bewußt gewesen sein sollte, welche Kosten und Konsequenzen für andere das bedeutete, woran er beteiligt - und oft in herausragender Weise beteiligt - war, dann nur, weil er sich vollständig weigerte, zu sehen. (...) Wenn es irgendeine bessere, effektivere, oder in der Tat überhaupt irgend eine andere Art gegeben hätte, diese kleinen Eichmanns, die sich in dieser sterilen Zufluchtsstätte der Twin Towers aufhielten, angemessen für ihre Teilnahme zu bestrafen, dann würde es mich interessieren, sie zu erfahren.
Ward Churchill behauptete in dieser Schrift also nicht weniger, als daß die 3000 Opfer des Anschlags zu Recht getötet worden seien, als "Strafe" für ihre Mitwirkung an der "gewaltigen Profitmaschine".



Ist das nicht überinterpretiert? Kann jemand, der halbwegs bei Sinnen ist, so etwas behaupten?

Er kann. Jedenfalls kann das Ward Churchill. Er läßt keinen Zweifel an seiner Meinung. Über die Attentäter des 11. September schreibt er:
With that, they've given Americans a tiny dose of their own medicine. This might be seen as merely a matter of "vengeance" or "retribution," and, unquestionably, America has earned it, even if it were to add up only to something so ultimately petty. (...) There is, however, no reason to believe that retributive parity is necessarily an item on the agenda of those who planned the WTC/Pentagon operation. If it were, given the virtual certainty that they possessed the capacity to have inflicted far more damage than they did, there would be a lot more American bodies lying about right now. (...) Middle-Easterners, unlike Americans, have no history of exterminating others purely for profit, or on the basis of racial animus. Thus, we can appreciate the fact that they value life – all lives, not just their own – far more highly than do their U.S. counterparts.

(...) In sum one can discern a certain optimism – it might even be call humanitarianism – imbedded in the thinking of those who presided over the very limited actions conducted on September 11.

Damit [mit dem Anschlag; Zettel] haben sie den Amerikanern eine winzige Dosis von deren eigenen Medizin gegeben. Das könnte als lediglich eine Frage von "Rache" oder "Vergeltung" gesehen werden, und fraglos hat Amerika es verdient, auch wenn es sich nur auf etwas so letztlich Geringfügiges belief. (...) Es gibt jedoch keinen Grund für die Annahme, daß eine Parität der Vergeltung notwendigerweise ein Punkt auf der Agenda derer ist, die die WTC/Pentagon- Operation planten. Wäre sie das gewesen, dann würden angesichts der faktischen Gewißheit, daß sie die Kapazität besaßen, viel mehr Schaden anzurichten, als sie es taten, jetzt im Augenblick viel mehr amerikanische Leichen herumliegen. (...) Im Unterschied zu den Amerikanern haben die Menschen des Mittleren Ostens keine Geschichte des Ausrottens anderer allein um des Profits willen, oder aufgrund ihres rassischen Wesens. Also können wir die Tatsache würdigen, daß sie das Leben - jedes Leben, nicht nur ihr eigenes - weit höher schätzen als ihre US-amerikanischen Gegenspieler.

Kurzum, man kann im Denken derer, die die sehr begrenzte Aktion vom 11. September leiteten, einen gewissen Optimismus entdecken. Man könnte es sogar Humanität nennen.


Was ist das für ein Mensch, der solche unglaublichen, solche zynischen und obszönen Sätze zu Papier brachte?

Er war, als er das schrieb, ein amerikanischer Universitäts- Professor. Kein gewöhnlicher allerdings, sondern er war Direktor der Abteilung für Ethnische Studien der Unversität von Colorado.

Ein ungewöhnlicher Professor freilich nicht nur, weil er ein Department leitete. Sondern auch, was seine akademische Karriere angeht:

In den USA gibt es keine Habilitation. Man wird erst Assistant Professor, dann Associate Professor und schließlich - wenn es klappt - Full Professor; und zwar aufgrund der Publikationen, die man (überwiegend) nach der Promotion veröffentlicht hat. Dabei zählen im wesentlich nur Publikationen in angesehenen, peer reviewed Fachzeitschriften - Zeitschriften, die Artikel nur dann annehmen, wenn eine Reihe von (meist drei oder vier) Gutachtern das befürwortet.

Ward Churchill freilich hatte, als er Assistant Professor wurde, als er unbefristet angestellt wurde, keine Publikationen vorzuweisen, die nach seiner Promotion entstanden wären. Denn er war - so kann man es in der Wikipedia lesen - gar nicht promoviert! Was es bei einem amerikanischen Professor eigentlich gar nicht geben kann. Und publiziert hat er kaum in anerkannten Fachzeitschriften, sondern in Zeitungen und der "alternativen" Presse.



Wie kommt's, das so jemand in höchste akademische Ränge aufsteigen konnte? Man muß dazu wissen, daß an vielen US- Universitäten in den siebziger Jahren Departments entstanden, die keine der klassischen Wissenschaften pflegen, sondern, sagen wir, aus dem Zeigeist hervorgequollene Disziplinen. Dazu gehören die Women's Studies, heute meist Gender Studies, also feministische "Wissenschaft". Und dazu gehören jene Ethnic Studies, für die Ward Churchill als Professor angestellt wurde.

Welches seltsame Verständnis von Wissenschaft dieses Department hat, geht aus seiner Selbstbeschreibung hervor. Darin heißt es:
The Department of Ethnic Studies encourages participatory, experiential, student-centered learning and empowers students to move beyond existing social, cultural, and political paradigms to more inclusive paradigms in which they are the subjects of their own reality. Consequently, all students are encouraged to examine and analyze their own inherited political/ economic and social/ cultural background and identities.

Die Abteilung für Ethnische Studien ermutigt teilnehmendes, erfahrendes, studentzentriertes Lernen und befähigt die Studierenden, über die existierenden sozialen, kulturellen und politischen Paradigmen hinauszugehen, hin zu umfassenderen Paradigmen, in denen sie die Subjekte ihrer eigenen Realität sind. Folglich werden alle Studierende ermutigt, ihren eigenen ererbten politisch/ ökonomischen und sozial/ kulturellen Hintergrund und ihrer Identität zu untersuchen und zu analysieren.
Mit anderen Worten, die Wertfreiheit und Objektivität der Wissenschaft gilt hier nicht. Das Studium wird als eine Art Selbsterfahrungs- Gruppe angeboten.



Nun gut, Ward Churchill dürfte nicht der einzige wissenschaftlich nicht ausgewiesene Professor sein, der in einem solchen fragwürdigen Studiengang an einer US- Universität Karriere machen konnte. Das ist halt das Erbe der siebziger Jahre.

Aber nun hatte er dieses Pamphlet geschrieben. Nun hatte er es dadurch zu einer gewissen Berühmtheit gebracht. Und nun begann man sich auch außerhalb von Boulder, Colorado für das zu interessieren, was er als sein "wissenschaftliches Werk" vorgelegt hatte.

Es regten sich Zweifel an dessen Wissenschaftlichkeit. Eine Kommission wurde tätig.

Wie gründlich dergleichen an einer US- Universität betrieben wird, wenn erst einmal ein Stein ins Rollen gekommen ist, das kann man dieser Aufstellung entnehmen. Im wesentlich geht es um die Untersuchung des Vorwurfs von Academic Misconduct, also akademisches Fehlverhalten. Dazu gehören Plagiate, Fälschungen, erfundene Daten; dergleichen.

Das Untersuchungskomitee kam zu dem Ergebnis, daß Churchill jahrelang Quellen gefälscht hatte; zum Beispiel, wenn er immer wieder behauptete, die US- Armee hätte 1837 absichtlich mit Pocken verseuchte Decken an die Mandan- Indianer verteilt, um unter ihnen eine Pocken- Epidemie auszulösen. Das Komitee fand des weiteren, daß Professor Churchill wiederholt Plagiate begangen hatte, zum Beispiel einen Artikel seiner Kollegin Fay G. Cohen unter seinem eigenen Namen publiziert.



Am 24. Juli 2007 nun hat die University of Colorado at Boulder die Konsequenz gezogen und Churchill entlassen. In der Presseerklärung dazu heißt es:
The record of the case shows a pattern of serious, repeated and deliberate research misconduct that fell below the minimum stand of professional integrity, involving fabrication, falsification, improper citation and plagiarism.

Die Akte zu dem Fall zeigt ein Muster schwerer, wiederholter und absichtlicher akademischer Verfehlungen, die den Minimal- Standard professioneller Integrität unterschritten. Dazu gehören erfundene Daten und Fälschungen, unrichtige Zitate und Plagiate.
Betont wird in der Mitteilung, daß die Entscheidung nichts mit Churchills Pamphlet zum 11. September zu tun habe.



Ende gut, alles gut? Es gibt noch etwas zu berichten.

Auf seiner - im Augenblick noch zugänglichen - WebSite an der University of Colorado schreibt Churchill: "Ward Churchill is a Creek and enrolled Keetoowah Band Cherokee". Er sei ein Creek- Indianer und ein eingetragenes Mitglied der Cherokees, Unterabteilung Keetoowah.

Das ist eine der zahlreichen Versionen über seine angebliche indianische Herkunft, die er im Lauf der Zeit zum Besten gegeben hat. In der Wikipedia ist das sorgfältig dokumentiert. Offiziell anerkannt ist nichts davon. (In den USA wird Indianern vom zuständigen Ministerium ein sogenanntes Certificate of Degree of Indian Blood ausgestellt, aufgrund dessen sie Anspruch auf die für Indianer vorgesehenen Vergünstigungen haben).

Ein Reporter der Rocky Mountain News, Kevin Flynn, hat sich die Mühe gemacht, die Genealogie von Ward Churchill penibel zu erforschen. Sogar ein DNA-Test bei einem Verwandten wurde gemacht. Ergebnis dieses Stücks besten amerikanischen investigativen Journalismus: "Are Ward Churchill's claims of American Indian ancestry valid? Our findings: Genealogical records, DNA dont support assertions." Hat Ward Churchill indianische Vorfahren? Weder genealogische Dokumente noch ein DNA-Test bestätigten das.

Und wie es halt so geht, wenn jemand eine Story erfindet - sie fällt mal so aus, mal so. Mal behauptete Churchill, er sei zu weniger als einem Viertel indianische Abstammung. Mal sagte er, er sei zu drei Sechzehntel Cherokee. Dann wieder war er angeblich zu nur einem Sechzehntel Cherokee. In einer anderen Version seiner Abstammung erklärte er, er habe väterlicherseits Muscogee- und Creek- Indianer als Vorfahren, mütterlicherseits Cherokee- Vorfahren. Und er behauptet, er sei eingetragenes Mitglied der Keetoowahs.

Die Wahrheit ist, daß dieser Stamm ihn drei Monate lang, im Jahr 1994, zu seinem Ehrenmitglied gemacht hatte - wie auch Bill Clinton.

Der Stamm hat kategorisch erklärt, Churchill gehöre ihm nicht an. Das hinderte diesen nicht daran, bis zu seiner Entlassung auf seiner WebSite das Gegenteil zu behaupten.

Warum? Nun, wie man in der Wikipedia nachlesen kann, bezeugen Angehörige der Universität von Colorado, daß Churchill dort überhaupt nur angestellt wurde, weil er vorgab, Indianer zu sein - als Teil der damaligen Politik dieser Universität, ethnische Diversität in ihren Fakultäten zu fördern.



Schlußbemerkung: Ich finde, das ist eine sehr amerikanische Geschichte.

Eine Geschichte von der Freiheit unter dem First Amendment, das es - und die Universität von Colorado hat das ausdrücklich bestätigt - jedem, auch einem Professor erlaubt, solche unglaublichen Behauptungen aufzustellen wie in dem Pamphlet zum 11. September.

Eine Geschichte von dem Bemühen dieses Landes, mit seiner multikulturellen Vergangenheit und Gegenwart zurechtzukommen; erfolgreicher als in fast jedem anderen Land der Welt.

Eine Geschichte aber auch von den Selbstreinigungs- Kräften dieser Gesellschaft, hier des akademischen Systems. Man hat ihn lange wirken lassen, diesen Extremisten und Scharlatan. Am Ende aber hat er das bekommen, was er verdient hat.

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