Zu den Merkmalen aller Diktaturen gehört es, daß sie kein Streikrecht kennen.
In der DDR wurde dafür von den Kommunisten eine ungewöhnlich zynische Begründung gegeben: Die Unternehmen seien ja volkseigen, gehörten also den Arbeitern. Und diese könnten logischwereise nicht gegen sich selbst streiken.
Also wurde jeder Versuch zu einem Streik mit allen Mitteln unterdrückt; die Ereignisse des 17. Juni 1953 begannen bekanntlich mit einer Arbeitsniederlegung, auf die das Regime mit Repression reagierte.
In einem demokratischen Rechtsstaat hingegen darf niemand dafür bestraft oder sonstwie belangt werden, daß er sich weigert, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Das ist sein Recht, so wie es das Recht des Arbeitgebers ist, ihn dann auszusperren. Oft legen - wie in Deutschland - komplexe Gesetze und Grundsatzurteile die Regularien für Streiks fest.
Dies gesagt - sind Streiks eigentlich vernünftig? Ist dieses Vorgehen, einen Arbeitsvertrag nicht zu erfüllen, um einen besseren Arbeitsvertrag zu erreichen, noch zeitgemäß? Ich habe da meine Zweifel.
Die Logik des Streiks besteht darin, daß die Streikenden sich selbst schaden, aber dem Arbeitgeber noch mehr. Daß sie ihm ein Übel zufügen, bis er es nicht mehr erträgt und klein beigibt. Bis er sich mindestens darauf einläßt, Forderungen zu erfüllen, deren Erfüllung er ohne den Streik verweigert hätte.
Die Logik des Streiks hängt vollkommen daran, daß diese Asymmetrie des zugefügten Übels besteht; daß der Streik den Arbeitgeber also deutlich härter trifft als die Streikenden selbst.
Daß das keineswegs zwangsläufig der Fall ist, zeigen die sogenannten "Vorlesungs- Streiks", die es bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder an deutschen Universitäten gegeben hat.
Die Studenten "streikten", indem sie nicht in die Lehrveranstaltungen gingen; dafür sollten sie - so dachten es sich die jeweiligen Organisatoren - in Versammlungen gehen, in denen sie agitiert wurden; sollten sie an allerlei Aktionen teilnehmen.
Einige taten das. Die meisten blieben zu Hause, lernten fürs Examen, fuhren vielleicht an die See oder zu Opa und Oma.
Wem schadeten solche "Streiks"? Ganz gewiß nicht der Universitätsleitung, dem Kultusministerium, oder wer sonst der Adressat war. Allenfalls vielleicht dem Studentenwerk, weil es weniger Mensa- Essen verkaufen konnte.
Hauptsächlich aber schadeten diese "Streiks" den "Streikenden" selbst, die nicht das lernen konnten, was sie lernen wollten; die im Extremfall ein Semster verloren. Erreicht wurde damit, soweit ich das überblicke, nie etwas.
Der völlig wirkungslose Streik - das ist das eine Extrem. Das andere ist, daß ein paar hundert oder ein paar tausend Streikende eine ganze Volkswirtschaft schwer treffen können.
Das sind dann freilich nicht irgendwelche Angestellte oder Arbeiter. Es sind Leute, auf deren Arbeit sehr viele, fast alle angewiesen sind. Ärzte also. Müllwerker. Fluglotsen und Lokführer. Menschen, die Dienstleistungen anbieten, auf die die Gesellschaft unter keinen Umständen verzichten kann.
Die Logik von deren Streiks ist es nun aber nicht, ihren Arbeitgeber in Bedrängnis bringen. Der Streik von Ärzten und Krankenschwestern trifft nicht primär die Träger der Krankenhäuser, sondern die Patienten. Wenn Fluglotsen streiken, dann kann der Staat oder das staatsnahe Unternehmen, bei dem sie angestellt sind, das gut überstehen. Aber nicht die Wirtschaft, nicht das allgemeine Publikum von Fluggästen.
Wenn, wie jetzt, Lokomotivführer streiken, dann treffen sie damit nicht die Deutsche Bahn AG. Diese kann es finanziell gut aushalten, auf Wochen ein paar Fahrkarten weniger zu verkaufen. Sondern sie treffen Pendler, Geschäftsreisende, Urlaubsreisende. Also sehr viele Menschen, die mit diesem Arbeitskampf überhaupt nichts zu tun haben.
Die Streikenden spekulieren somit darauf, daß ihr Arbeitgeber sich sozialer und ethischer verhält als sie selbst.
Streikende Ärzte gehen davon aus, daß das, was sie selbst tun, Hippokratischer Eid hin, Hippokratischer Eid her - zum Beispiel dringende Operationen verschieben - für die Krankenhausträger inakzeptabel ist. Daß diese also nachgeben.
Lokführer gehen davon aus, daß das, was sie selbst den Bahnkunden zumuten - daß sie nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen, daß sie auf irgendeinem Bahnhof stranden usw. - für die Deutsche Bahn AG inakzeptabel ist.
Daß diese also nachgibt - nicht, weil sie den Streik finanziell nicht durchhalten könnte. Sondern weil die Unternehmensleitung, im Unterschied zu den Lokführern, an die Kunden denkt.
Solche Streiks funktionieren allein deshalb, weil die Streikenden (meist zu Recht) darauf vertrauen, daß ihr jeweiliger Adressat - ein Unternehmen, der Staat - es sich nicht leisten kann, sich ebenso unverantwortlich und asozial zu verhalten wie sie selbst.
Oft sind solche Streiks erfolgreich. In Frankreich finden Streiks der cheminots, der Bahnler, immer wieder statt mit dem Ergebnis, daß diese Berufsgruppe, über die Jahrzehnte erstreikt, geradezu unglaubliche Privilegien genießt. Unter anderem die Pensionierung mit 50 (!) Jahren für das Zugpersonal.
Es ist also allein eine Frage der jeweiligen Erpressungs- Möglichkeiten, was mit dem Mittel des Streiks erreicht werden kann. Das Instrument des Streiks begünstigt diejenigen, die erpressen können, indem sie das allgemeine Publikum treffen. Diejenigen, denen das nicht möglich ist, fallen hinten runter. Und die Erpressung funktioniert nur dann und nur insofern, als die jeweiligen Arbeitgeber in Bezug auf Kunden, Patienten usw. weniger gewissenlos sind als die Streikenden.
Das Streikrecht gehört zur Demokratie, keine Frage. Aber aus meiner Sicht ist es nicht mehr als ein notwendiges Übel. Ungerecht, wie nur etwas ungerecht sein kann. Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien werden auf dem Rücken Dritter ausgetragen. Die besten Karten haben nicht diejenigen, die das verdienen, sondern diejenigen, die das größte Erpressungspotential haben.
Es gibt gewiß erfreulichere Seiten des demokratischen Rechtsstaats als das Streikrecht.
In der DDR wurde dafür von den Kommunisten eine ungewöhnlich zynische Begründung gegeben: Die Unternehmen seien ja volkseigen, gehörten also den Arbeitern. Und diese könnten logischwereise nicht gegen sich selbst streiken.
Also wurde jeder Versuch zu einem Streik mit allen Mitteln unterdrückt; die Ereignisse des 17. Juni 1953 begannen bekanntlich mit einer Arbeitsniederlegung, auf die das Regime mit Repression reagierte.
In einem demokratischen Rechtsstaat hingegen darf niemand dafür bestraft oder sonstwie belangt werden, daß er sich weigert, eine Arbeitsleistung zu erbringen. Das ist sein Recht, so wie es das Recht des Arbeitgebers ist, ihn dann auszusperren. Oft legen - wie in Deutschland - komplexe Gesetze und Grundsatzurteile die Regularien für Streiks fest.
Dies gesagt - sind Streiks eigentlich vernünftig? Ist dieses Vorgehen, einen Arbeitsvertrag nicht zu erfüllen, um einen besseren Arbeitsvertrag zu erreichen, noch zeitgemäß? Ich habe da meine Zweifel.
Die Logik des Streiks besteht darin, daß die Streikenden sich selbst schaden, aber dem Arbeitgeber noch mehr. Daß sie ihm ein Übel zufügen, bis er es nicht mehr erträgt und klein beigibt. Bis er sich mindestens darauf einläßt, Forderungen zu erfüllen, deren Erfüllung er ohne den Streik verweigert hätte.
Die Logik des Streiks hängt vollkommen daran, daß diese Asymmetrie des zugefügten Übels besteht; daß der Streik den Arbeitgeber also deutlich härter trifft als die Streikenden selbst.
Daß das keineswegs zwangsläufig der Fall ist, zeigen die sogenannten "Vorlesungs- Streiks", die es bis in die achtziger Jahre hinein immer wieder an deutschen Universitäten gegeben hat.
Die Studenten "streikten", indem sie nicht in die Lehrveranstaltungen gingen; dafür sollten sie - so dachten es sich die jeweiligen Organisatoren - in Versammlungen gehen, in denen sie agitiert wurden; sollten sie an allerlei Aktionen teilnehmen.
Einige taten das. Die meisten blieben zu Hause, lernten fürs Examen, fuhren vielleicht an die See oder zu Opa und Oma.
Wem schadeten solche "Streiks"? Ganz gewiß nicht der Universitätsleitung, dem Kultusministerium, oder wer sonst der Adressat war. Allenfalls vielleicht dem Studentenwerk, weil es weniger Mensa- Essen verkaufen konnte.
Hauptsächlich aber schadeten diese "Streiks" den "Streikenden" selbst, die nicht das lernen konnten, was sie lernen wollten; die im Extremfall ein Semster verloren. Erreicht wurde damit, soweit ich das überblicke, nie etwas.
Der völlig wirkungslose Streik - das ist das eine Extrem. Das andere ist, daß ein paar hundert oder ein paar tausend Streikende eine ganze Volkswirtschaft schwer treffen können.
Das sind dann freilich nicht irgendwelche Angestellte oder Arbeiter. Es sind Leute, auf deren Arbeit sehr viele, fast alle angewiesen sind. Ärzte also. Müllwerker. Fluglotsen und Lokführer. Menschen, die Dienstleistungen anbieten, auf die die Gesellschaft unter keinen Umständen verzichten kann.
Die Logik von deren Streiks ist es nun aber nicht, ihren Arbeitgeber in Bedrängnis bringen. Der Streik von Ärzten und Krankenschwestern trifft nicht primär die Träger der Krankenhäuser, sondern die Patienten. Wenn Fluglotsen streiken, dann kann der Staat oder das staatsnahe Unternehmen, bei dem sie angestellt sind, das gut überstehen. Aber nicht die Wirtschaft, nicht das allgemeine Publikum von Fluggästen.
Wenn, wie jetzt, Lokomotivführer streiken, dann treffen sie damit nicht die Deutsche Bahn AG. Diese kann es finanziell gut aushalten, auf Wochen ein paar Fahrkarten weniger zu verkaufen. Sondern sie treffen Pendler, Geschäftsreisende, Urlaubsreisende. Also sehr viele Menschen, die mit diesem Arbeitskampf überhaupt nichts zu tun haben.
Die Streikenden spekulieren somit darauf, daß ihr Arbeitgeber sich sozialer und ethischer verhält als sie selbst.
Streikende Ärzte gehen davon aus, daß das, was sie selbst tun, Hippokratischer Eid hin, Hippokratischer Eid her - zum Beispiel dringende Operationen verschieben - für die Krankenhausträger inakzeptabel ist. Daß diese also nachgeben.
Lokführer gehen davon aus, daß das, was sie selbst den Bahnkunden zumuten - daß sie nicht rechtzeitig zur Arbeit kommen, daß sie auf irgendeinem Bahnhof stranden usw. - für die Deutsche Bahn AG inakzeptabel ist.
Daß diese also nachgibt - nicht, weil sie den Streik finanziell nicht durchhalten könnte. Sondern weil die Unternehmensleitung, im Unterschied zu den Lokführern, an die Kunden denkt.
Solche Streiks funktionieren allein deshalb, weil die Streikenden (meist zu Recht) darauf vertrauen, daß ihr jeweiliger Adressat - ein Unternehmen, der Staat - es sich nicht leisten kann, sich ebenso unverantwortlich und asozial zu verhalten wie sie selbst.
Oft sind solche Streiks erfolgreich. In Frankreich finden Streiks der cheminots, der Bahnler, immer wieder statt mit dem Ergebnis, daß diese Berufsgruppe, über die Jahrzehnte erstreikt, geradezu unglaubliche Privilegien genießt. Unter anderem die Pensionierung mit 50 (!) Jahren für das Zugpersonal.
Es ist also allein eine Frage der jeweiligen Erpressungs- Möglichkeiten, was mit dem Mittel des Streiks erreicht werden kann. Das Instrument des Streiks begünstigt diejenigen, die erpressen können, indem sie das allgemeine Publikum treffen. Diejenigen, denen das nicht möglich ist, fallen hinten runter. Und die Erpressung funktioniert nur dann und nur insofern, als die jeweiligen Arbeitgeber in Bezug auf Kunden, Patienten usw. weniger gewissenlos sind als die Streikenden.
Das Streikrecht gehört zur Demokratie, keine Frage. Aber aus meiner Sicht ist es nicht mehr als ein notwendiges Übel. Ungerecht, wie nur etwas ungerecht sein kann. Auseinandersetzungen zwischen zwei Parteien werden auf dem Rücken Dritter ausgetragen. Die besten Karten haben nicht diejenigen, die das verdienen, sondern diejenigen, die das größte Erpressungspotential haben.
Es gibt gewiß erfreulichere Seiten des demokratischen Rechtsstaats als das Streikrecht.
Titelvignette: Streik von Textilarbeitern in Chicago 1915. In der Public Domain, da die Rechte im Besitz der Library of Congress sind. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden. - Daneben steht auch die Kommentar- Funktion des Blogs wie bisher zur Verfügung.