30. Mai 2007

Randbemerkung: Ist das Geheimnis der Autisten jetzt enthüllt?

Leider sind sie verschwunden, diese Kleinanzeigen, die man früher in jeder Illustrierten fand. Die für Mittel warben, abstehende Ohren loszuwerden ("Vorher- Nachher"); die eine "Heimsauna" anpriesen, in der man saß wie in einem Faß; die die Geheimnisse der Rosenkreuzer zu enthüllen versprachen.

Oder die für das perfekte Gedächtnis warben. "Ungewöhnliche Fähigkeiten unseres Gedächtnisses", so ungefähr war jahrzehntelang eine dieser Kleinanzeigen überschrieben; und der neugierige Kunde mußte an Aubanel schreiben, an eine Adresse in Südfrankreich.

Ich habe das damals getan und bekam, wie zu erwarten, die Einladung, teure "Schulungsbriefe" zu abonnieren.

Sie enthielten, vermute ich, die klassischen Methoden der Mnemotechnik, also zB die Methode der Orte. Man kann erstaunlich viel behalten, wenn man es visualisiert und wenn man das Visualisierte räumlich ordnet. Das wußten schon die antiken Rhetoren; von daher die Methode der "Loci", eben der Orte. Orte in einem Tempelgang, so war es klassisch.



Gedächtnis hat offenbar viel mit Visualisieren, viel mit Räumlichkeit zu tun. Vielleicht nicht verwunderlich, wenn man berücksichtigt, wozu denn Säugetiere ihr Gedächtnis brauchen: Um wieder zu einem Ort zu finden. Um sich zu orientieren, also. Hominiden zumal, die in der Savanne jagten.



Nun gibt es Menschen, die irgendeine der menschlichen Fähigkeiten in ausgeprägtem Maß haben; oft auf Kosten der anderen. Vielleicht fehlen in ihrem Gehirn die erforderlichen Hemmungsmechanismen; bestimmte neuronale Verbindungen wuchern sozusagen, weil ihnen nicht genügend Einhalt geboten wird.

Da kommen dann "ungewöhnliche Fähigkeiten unseres Gedächtnisses" zustande, weit über das hinaus, was jener Versender Aubanel damals in seinen Kleinanzeigen versprechen konnte.

Der große russische Neuropsychologe Luria hat vor fast achtzig Jahren einen solchen Fall beschrieben, den berühmten S.



Jetzt kommt das mal wieder in die Presse. Ein Autist "enthülle" die Geheimnisse seines Rechengenies, ist in "Spiegel-Online" zu lesen.

Ach nein. Er beschreibt nur das, was auch schon der "S." von Luria beschrieben hat; was alle Zahlenkünstler beschreiben: Die Zahlenwelt ist für sie eine Landschaft, eine bunte, zerklüftete usw. Die Zahlen stehen darin herum, man kann in der Landschaft wandern, die Ergebnisse von Rechenoperationen stehen sozusagen da.

Seltsam, sehr seltsam. Mathematik hat offenbar viel mit Vorstellung, mit Visualisierung zu tun. Warum - und warum man im Imaginären rechnen kann, ohne nach den Regeln der Rechenkunst zu rechnen -, das weiß bisher niemand.