4. Mai 2007

Randbemerkung: Das Elend der Linken

Können Sie sich noch an die Linke der sechziger, der siebziger Jahre erinnern?

Auch damals waren die Linken in ihrer großen Mehrheit - von den Kommunisten bis zu den Linksliberalen - wie heute davon überzeugt, daß allein ihre eigene, linke politische Haltung ethisch begründbar sei und daß einer überhaupt nur dann ein Konservativer, gar ein Rechter sein könne, wenn er ein Egoist und/oder uneinsichtig ist.

Innerhalb der Linken diskutierte man. Konservative und Rechte bekämpfte und entlarvte man. Sie waren Feinde, keine Gesprächspartner.

An dieser linken Überheblichkeit und Intoleranz hat sich nichts geändert. Und doch ist heute alles anders. Etwas fehlt, was damals ein weiteres, im Grunde das zentrale Charakteristikum der Linken war: Die Zukunftshoffnung, ja Zukunftsgewißheit. Man war gewiß, daß der Linken die Zukunft gehörte: "Mit uns zieht die Neue Zeit".



Vorbei.

Die Linke entwirft heute keine Projekte mehr, sondern sie ist - paradox genug - zur Verteidigerin des Bestehenden geworden. Sie will gewissermaßen retten, was zu retten ist - uns verteidigen gegen die Globalisierung, gegen Sozialabbau, gegen die Zweidrittelgesellschaft, gegen soziale Kälte, gegen Arbeitszeit- Verlängerung usw.

Es gibt fraglos Gründe und Motive für diese defensiv- linke Haltung. Nur - zur Meinungsführerschaft eignet sich das nicht mehr. So wenig, wie die Rechten sich in den sechziger, siebziger Jahren für eine Meinungsführerschaft eigneten. So wenig, wie Anfang des 19. Jahrhunderts die Royalisten noch die Meinungsführerschaft erringen konnten, auch wenn sie hier und da noch (oder vorübergehend wieder, wie in Frankreich) die Macht hatten.



In einem Leitartikel, an dessen Ende er ziemlich halbherzig zur Wahl von Ségolène Royal aufruft, analysiert der Chefredakteur von "Le Monde", Jean-Marie Colombani, die Gründe für die wahrscheinliche Niederlage von Royal. Er schreibt über die Kandidatin:
Elle a eu l'intuition de devoir bousculer l'ordre socialiste, mais elle n'a pu le faire que de façon parcellaire, expérimentale ou improvisée, faute d'un socle solide de réflexion collective préalable, mûrie puis métabolisée par la candidate.

Il n'y a pas, dans l'arsenal qu'elle présente, de mesures-phares comparables, par leur effet, à ce que furent pour Lionel Jospin version 1997 les 35 heures ou les emplois-jeunes. Et, chemin faisant, les socialistes n'ont pas aperçu que l'idée même que les Français se font du "changement" a… changé ! C'est ce que Nicolas Sarkozy a pu récupérer (et masquer) avec son discours sur la valeur travail. (...)

Il faut donc d'urgence, pour la clarté et la dynamique du débat démocratique, renouveler la pensée de la gauche. La mondialisation reste vécue comme une menace et diabolisée comme la cause de tous nos maux; seule la face négative de cette révolution planétaire est prise en compte et dénoncée. La gauche réformiste doit repenser de façon moderne le changement social. Elle doit sortir de l'impasse idéologique dans laquelle elle s'est trop longtemps enfermée.

Ihr war intuitiv klar, daß sie die Rangordnung der Sozialisten umstoßen mußte, aber sie hat das nur in einer eng begrenzten, experimentellen oder improvisierten Weise tun können, weil es zuvor keinen festen Sockel eines gemeinsamen Nachdenkens gegeben hat, der hätte reifen und von der Kandidatin aufgenommen werden können.

In dem Arsenal, das sie anbietet, gibt es keine wie ein Leuchtturm herausragenden Maßnahmen, die in ihrer Wirkung dem vergleichbar wären, was Lionel Jospin 1997 mit der 35-Stunden- Woche oder Arbeits- Beschaffungsmaßnahmen für Jugendliche vorschlug. Und mittlerweile ist den Sozialisten entgangen, daß selbst die Vorstellung der Franzosen von einer "Veränderung" sich verändert hat! (...)

Also muß, um der Klarheit und der Dynamik der demokratischen Debatte willen, das linke Denken dringend erneuert werden. Die Globlisierung wird immer noch als Bedrohung erlebt und als die Ursache allen Übels verteufelt; nur die negative Seite dieser weltweiten Revolution wird gesehen und verurteilt. Die reformistische Linke muß den sozialen Wandel auf moderne Art neu bedenken. Sie muß sich aus der ideologischen Sackgasse befreien, in die sie sich zu lange eingeschlossen hat.
Treffliche Analyse. Trefflich als Analyse des Bankrotts der Linken.

Nur macht Colombani dann einen seltsamen Sprung zu der Empfehlung, man möge die Linke Royal wählen.

Die logische Folgerung aus seiner Analyse wäre ja eigentlich, daß diese Linke so lange in die Opposition gehört, bis sie sich der Realität anbequemt hat - also nicht mehr anti-, sondern prokapitalistisch ist; bis sie nicht mehr nur die Gefahren, sondern auch die Chancen der Globalisierung sieht; bis sie eingesehen hat, daß Menschen nicht umso wohlhabender und glücklicher werden, je weniger sie arbeiten.

Nur - ist das dann noch eine Linke? Oder könnte vielleicht, wie es François Bayrou sieht, ein modernes Parteiensystem aus einer konservativen und einer liberalen Volkspartei bestehen?

Beide prokapitalistisch, freiheitlich, den Werten der Aufkärung, dem demokratischen, säkularen Rechtsstaat verpflichtet.

Nur die eine - wie immer die Rechte - mehr Dynamik und Fortschritt, Wissenschaft und Technologie betonend.

Und die andere - wie immer die Linke - zu Recht dafür eintretend, daß bei allem Fortschritt die Solidarität, der Schutz der Schwachen, der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht vernachlässigt werden dürfen.