5. September 2006

Verschwörungstheorien (3): Die Meister des Mißtrauens

Mißtrauen ist etwas anderes als Zweifel. Zweifel bezieht sich auf Sachverhalte. Mißtrauen richtet sich gegen Menschen.

Descartes, mit dessen methodischem Zweifel der zweite Teil dieser Serie begann, war keineswegs mißtrauisch. Seine Werke sind geradezu auffällig frei von Kritik an Institutionen, an überkommenen Meinungen. Das lag sicherlich zum Teil an den Bedingungen der Zensur, unter denen er publizieren mußte. Aber es entsprach auch seinem Denken: Als einer, der von sich selbst ausging und seinem Vermögen vertraute, selbst die Wahrheit zu erkennen, interessierte er sich herzlich wenig dafür, andere zu widerlegen oder gar ihnen zu mißtrauen. Darin glich er den anderen großen Selbstdenkern in der Geschichte der Philosophie - Sokrates, Augustinus, Kant, Schopenhauer, Wittgenstein zum Beispiel.



Zweifel: Ja, und zwar gründlich. Mißtrauen: Nein. So ist es seither immer in den Wissenschaften gewesen. Jeder ernsthafte Wissenschaftler zweifelt ständig (auch an seinen eigenen Daten und Modellen); aber in einer freien Gesellschaft mißtraut er nicht seinen Kolleginnen und Kollegen. Er arbeitet unter der Prämisse, daß auch diese, wie er selbst, bestrebt sind, mit ihrer Arbeit der Wahrheit ein Stück näherzukommen. Wissenschaftler setzten voraus, daß jeder sich irren kann. Aber eben nur irren. Und daß man nicht versucht, zu fälschen, zu verschleiern, zu beschönigen oder zu vertuschen.

Und sie setzen voraus, daß Wissenschaftler das auch können. Daß sie also nicht durch unbewußte Motive, sachfremde Einflüsse, "Zwänge" irgendwelcher Art daran gehindert werden, objektive Daten zu erheben und sie so zu interpretieren, daß man zu einer diese Daten abdeckenden, zugleich plausiblen, in sich stimmigen und möglichst einfachen Erklärung gelangt.



Die meisten großen Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts sind auch Naturwissenschaftler gewesen, jedenfalls an Naturwissenschaften und Mathematik interessiert. Descartes hat unter anderem wichtige Beiträge zur Optik und zur Physiologie geleistet. Leibniz' Bedeutung für die Mathematik ist bekannt. John Locke war studierter Mediziner. George Berkeley war einer der Begründer der Optik. Kant befaßte sich - wie schon in Teil 2 erwähnt - mit theoretischer Astronomie.

Ganz anders im 19. Jahrhundert. Hier war Schopenhauer einer der wenigen der großen Philosophen, die sich noch für Naturwissenschaften interessierten. Dann erst wieder die Neukantianer, von denen der Weg zur modernen analytischen Philosophie führt. Hegel und Fichte aber, Schelling (auch und gerade mit seiner "Naturphilosophie") und Nietzsche waren Geisteswissenschaftler. Und natürlich Marx. Ihnen ging es um den Gang der Geschichte, um die Gesellschaft, um Kunst, Literatur, Psychologie. Mißtrauen gehört, wie gesagt, in den Bereich des Sozialen. Und zwei dieser Philosophen des 19. Jahrhunderts waren die Großmeister des Mißtrauens: Nietzsche und Marx. Die beiden großen Demaskierer, die leidenschaftlichen Entlarver.

Nietzsche sah sich als "Psychologen", und für ihn war die Psychologie die "Herrin der Wissenschaften" (so in "Jenseits von Gut und Böse"). Er wollte entlarven, aufdecken, die eigentlichen Motive hinter der Moral aufspüren. So wie - mit anderen Methoden - dann später Sigmund Freud. Marx wollte dasselbe für die Gesellschaft. Beide glaubten den Menschen nicht das, was sie behaupten. Nietzsche nicht, weil er dahinter Selbstsucht, Eitelkeit, Feigheit witterte. Marx nicht, weil für ihn die wahren Triebfedern der Menschen die ökonomischen waren, ihre materiellen Interessen. Getarnt freilich durch das "falsche Bewußtsein" der Ideologie, so wie Nietzsche unser Bewußtsein als ein Instrument des Selbstbetrugs sah.

Nietzsche schrieb über sich, daß wohl niemals "jemand mit einem gleich tiefen Verdacht in die Welt gesehen" habe (Vorrede zu "Menschliches, Allzumenschliches"); und für Marx waren Denker nichts anderes als "... Ideologen ..., welche die Ausbildung der Illusion dieser [herrschenden] Klasse über sich selbst zu ihrem Hauptnahrungszweig machen" ("Deutsche Ideologie").



In einer sehr breiten, zeitweise dominanten geistesgeschichtlichen Strömung sind diese beiden Varianten der Philosophie des Mißtrauens Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts zusammengeflossen. Auch wenn orthodoxe Marxisten und orthodoxe Freudianer einander oft nicht wohlgesonnen waren - ein Amalgam aus ihren Entlarvungsprogrammen hat einen großen Teil der Intellektuellen des Zwanzigsten Jahrhunderts geprägt, und über sie als die Transmissionsriemen die ganze Gesellschaft.

Daß man dem, was Menschen sagen, nicht trauen darf, ist sozusagen zu einem Teil unserer Allgemeinbildung geworden. In endlosen "Beziehungsgesprächen" will man herausspüren, was eigentlich "dahintersteckt", wenn der Partner oder die Partnerin etwas an der Oberfläche Belangloses sagt. Und in der Wahrnehmung der Politik, des Wirtschaftslebens gilt es als ausgemacht, daß alles, was im Öffentlichen Raum geschieht, im Grunde eine einzige Lüge ist. "In Wahrheit", so meint man, steckten doch nur "Wirtschaftsinteressen" hinter dem, was Staatsmänner sagen und tun.

Vor allem die weltweite Bewegung Ende der sechziger Jahre, die bei uns die der "Achtundsechziger" genannt wird, hat diese Haltung befördert, sie fast kanonisiert. Das "Establishment", die "falschen Bedürfnisse", die es uns einredet, das "Big Government", dem jede Schurkerei zugetraut wird - was bis dahin linke Intellektuelle ausgeheckt hatten, wurde nun zum Gemeingut. Die Attitüde des "mir macht keiner was vor", "ich durchschaue alle diese Lügen" ist nachgerade zur Grundhaltung vieler politisch Interessierter geworden; man braucht sich nur politische Internet-Foren anzusehen.



Diese mißtrauische Grundhaltung ist der Nährboden für Verschwörungstheorien. Der Nährboden - aber beileibe nicht ihr einziges Motiv. Verschwörungstheorien sind ja etwas Uraltes, weit hinter Marx, Nietzsche und Freud zurückreichend. Ohne den Nährboden des Mißtrauens könnten sie nicht gedeihen. Aber es gibt Motive, die sie sozusagen in diesen Nährboden pflanzen. Um sie - um den Reiz von Verschwörungstheorien - wird es im nächsten Teil gehen.
(Fortsetzung folgt)



© Zettel. Titelvignette: Die Verschwörung des Peter Amstalden in Luzern im Jahre 1478. Abbildung aus dem "Luzerner Schilling" (1513). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist.