29. Februar 2008

Zitat des Tages: Freud'sche Fehlmeldung des Monats

Spitzenverdiener sollen künftig zu deutlich höheren Geldstrafen verurteilt werden.

Punkt. Kein Komma. Kein Nebensatz. So las es heute die Sprecherin der "heute"-Sendung des ZDF um 17.00 vor, als ersten Satz einer Meldung. Ich finde, das ist die redaktionelle Freud'sche Fehlleistung des Monats; gerade noch rechtzeitig eingereicht, um prämiert zu werden.

Natürlich konnte man dem anschließenden Nachrichtentext entnehmen, daß - Brigitte Zypries hat sich das ausgedacht, wer sonst - nicht Spitzenverdiener zu Geldstrafen verurteilt werden sollen; vorläufig jedenfalls noch nicht. Sondern daß verurteilte Straftäter höhere Tagessätze zahlen sollen, wenn sie Spitzenverdiener sind. Aber vorgelesen hat es Brigitte Bastgen wie zitiert, heute um kurz nach 17 Uhr, in dieser unserer Neidrepublik.

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Terroristen, American Style, und was aus einem von ihnen wurde. Nebst einem Blick auf Deutschland

Einer meiner beiden amerikanischen Lieblings- Kolumnisten, Jonah Goldberg (der andere ist Charles Krauthammer), hatte am Dienstag in der Los Angeles Times einen Artikel, dessen Tenor uns in Deutschland bekannt - um nicht zu sagen: beklemmend bekannt - vorkommen dürfte: An amerikanischen Universitäten geht es Linksextremen ungleich besser als Rechtsextremen; in den meisten der führenden Medien werden sie ungleich besser behandelt.

Der Anlaß für Goldbergs Kommentar ist ein gewisser William Ayers, mit dem früher einmal Kontakt gehabt zu haben jetzt dem Kandidaten Barack Obama vorgeworfen wurde. Aber nicht dieser - ziemlich lachhafte - Vorwurf interessiert Goldberg, sondern die Lebensgeschichte dieses William Ayers; eines der bekanntesten amerikanischen Terroristen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre.

Er ging 1970 in den Untergrund, nachdem beim Bombenbasteln mehrere seiner Genossen, darunter seine Freundin, ums Leben gekommen waren. Seine Organisation - die Weathermen, zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte - legte in der Folgezeit zahlreiche Bomben. Ziele waren unter anderem das Kapitol in Washington, das Pentagon und das Gebäude des amerikanischen Außenministeriums, viele öffentliche Gebäude und Geschäftshäuser.

Zugutehalten muß man den Weathermen, daß sie im Unterschied zu ihren deutschen Gesinnungs- Genossen in der RAF keine Massenmörder waren. Sie richteten ihre Anschläge gegen Objekte und warnten sogar in der Regel in Telefon- Anrufen vor der bevorstehenden Explosion, um zu vermeiden, daß Menschen zu Schaden kommen würden.

Sie waren, ohne zu Mördern zu werden, das, was man in Amerikanischen radicals nennt: Extremisten. Und zwar solche, die zur Durchsetzung ihres politischen Ziels - der Einführung des Sozialismus, darin unterschieden sie sich nicht von der RAF - auf das Verbrechen setzten.

Ein weiterer Unterschied zur RAF war, daß der Spuk binnen weniger Jahre vorbei war. Bis Mitte der siebziger Jahre waren die meisten der Weathermen gefaßt oder hatten sich freiwillig gestellt, darunter William Ayers. Wegen Formfehlern kam es nicht zu einem Gerichtsverfahren gegen ihn. Er hat aber aus seiner Beteiligung an den Bombenanschlägen der Weathermen nie einen Hehl gemacht.

"Everything was absolutely ideal on the day I bombed the Pentagon", alles sei absolut ideal gewesen an dem Tag, als er einen Bombenanschlag auf das Pentagon verübte, so zitiert Goldberg aus Ayers' Memoiren. Und am 11. September 2001, wenige Stunden vor dem Anschlag auf das World Trade Center, erschien die New York Times mit einem Ayers- Interview, in dem er sagte "I don't regret setting bombs" und "I feel we didn't do enough" - er bedauere seine Anschläge nicht, und seiner Ansicht nach hätte man nicht genug gemacht.

Was macht so jemand heute? Nun, er ist Professor an einer amerikanischen Universität. Genauer: Er ist Distinguished Professor of Education. Professor der Pädagogik mit dem Sondertitel "Distinguished", für den es an deutschen Universitäten kein Äquivalent gibt. Einige US-Universitäten zeichnen damit Professoren aus, die einen herausragenden wissenschaftlichen Rang haben.

Ob Ayers diesen wissenschaftlichen Rang hat, kann ich nicht beurteilen. Aber jeder kann sich seinen Blog ansehen und das Symbol links neben dem Namen von Ayers.

Sein offenbar weiter bestehendes Bekenntnis zum Extremismus hat einer steilen akademischen Karriere keinen Abbruch getan.



"How is it that they get prestigious university jobs when even the whisper of neocon tendencies is toxic in academia?", fragt Goldberg. Wie es komme, daß solche Leute angesehene Positionen an Universitäten erhalten, während es in akademischen Kreisen tödlich ist, neokonservativer Tendenzen auch nur verdächtigt zu werden.

Goldberg zählt weitere Beispiele von einstigen amerikanischen Extremisten auf, die es inzwischen zu Ansehen und Einfluß gebracht haben. Er weist darauf hin, daß es auf der amerikanischen Linken schick ist, sich zu Che Guevara zu bekennen - in einem von Obamas Wahlkampf- Büros hatte man sogar ein Porträt von ihm aufgehängt.

Und er stellt eine Frage, die wir unverändert auch in Deutschland stellen können: "Why are Fidel Castro's apologists progressive and enlightened but apologists for Augusto Pinochet frightening and authoritarian?" Warum es als fortschrittlich und aufgeklärt gelte, Fidel Castro zu verteidigen, während die Verteidiger von Augusto Pinochet als abschreckend und autoritär eingestuft würden.

Gute Fragen. Jonah Goldberg versucht keine Antwort. Er empfiehlt nur den Moderatoren von Diskussionen zwischen Obama und Clinton, statt zum xten Mal dieselben Fragen zu stellen, doch einmal zu fragen, "why being a radical means never having to say you're sorry", warum man von Linksextremen niemals verlangt, etwas zu bereuen.



Dazu ist mir eingefallen, wie der Bundes- Geschäftsführer von "Die Linke", Dietmar Bartsch, gestern im Sender "Phoenix" entrüstet reagiert hat, als man ihn an die Tätigkeit seiner Partei in der DDR erinnerte. Das hätte man doch alles aufgearbeitet.

Können Sie sich erinnern, daß Bartsch, daß Bisky oder Gysi, daß Frau Pau jemals gesagt haben, sie bereuten, was sie mit ihrer Arbeit für das SED-Regime den Menschen in der DDR antaten?

Oder jene Dagmar Enkelmann, die am Mittwoch Abend so nett in Frank Plasbergs "Hart, aber fair" lächelte und die in einem früheren Leben Aspirantin an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED war?

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Zitat des Tages: "Der Iran hat in der Nuklearfrage gesiegt"

Die ganze Welt weiß, daß der Iran die erste Macht der Welt ist. (...) Heute erschallt der Name des Iran wie ein Faustschlag ins Gesicht der Mächtigen und weist ihnen ihren Platz zu. (...) Die Feinde der Nation und die Mächtigen, die uns einzuschüchtern versuchen, wagen nicht einzugestehen, daß unsere Nation in der Nuklearfrage gesiegt hat.

Der iranische Präsident Ahmadinedschad auf einer vom irakischen Fernsehen übertragenen Ansprache an Angehörige der Opfer des iranisch- irakischen Kriegs.

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28. Februar 2008

Zitat des Tages: "Juden kamen kaum vor"

Ich habe keine Schulwoche erlebt, in der nicht über den Nationalsozialismus gesprochen wurde. (...) Allerdings wurden im Unterricht nur Kommunisten als Opfer vermittelt. Juden kamen kaum vor, und wenn, dann Juden, die Freunde der Kommunisten waren, nicht aber in der Dimension und Singularität der Shoah. Das Zweite, was uns in der Schule offiziell vorgegaukelt wurde, war, dass die DDR mit diesem Nationalsozialismus gar nichts zu tun gehabt hat, sondern Nationalsozialismus ein rein westdeutsches Problem war.

Angela Merkel in einem lesenswerten Interview mit Evelyn Roll im heutigen "Süddeutsche Zeitung Magazin", in dem sie über ihre Jugend in der DDR und vor allem das Jahr 1968 spricht.

Kommentar: Daß in der DDR der Nationalsozialismus nie aufgearbeitet wurde, ist ein meines Erachtens unterschätzter Aspekt des Erbes der DDR und vermutlich einer der Gründe dafür, daß in den Neuen Ländern die Neonazis erfolgreicher sind als in der alten Bundesrepublik. Statt sich ernsthaft mit dem Nazismus auseinanderzusetzen, haben die Machthaber der DDR die Befassung mit ihm lediglich als ein Mittel der Agitation und Propaganda benutzt.

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Marginalie: Es gibt noch Richter in Karlsruhe! Oder sind es Gesetzgeber?

Selten ist ein Urteil der Karlsruher Richter so einhellig begrüßt, ja nachgerade bejubelt worden wie das zur Online- Durchsuchung. "Computer- Grundrecht erblickt die Welt" titelt die FAZ und bietet gleich ein ganzes Dossier zu dem Thema. Darin einen Kommentar von Miloš Vec, der unter dem Zwischentitel "Ein Meileinstein" schreibt:
... die Richter haben ein neues Grundrecht aus der Taufe gehoben. Die Bürger, so sprachen die Hüter der Verfassung, hätten ein Grundrecht "auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informations- technischer Systeme". Das ist ein Meilenstein in der juristischen Bewältigung der Herausforderungen der technisch- wissenschaftlichen Moderne. Noch ist seine Bedeutung unabsehbar und sind seine Konsequenzen ebenso vage Zukunftsmusik wie jene Fälle, an denen es künftig in Karlsruhe und vor anderen deutschen Gerichten ausbuchstabiert werden wird.
"Ausbuchstabiert" schreibt Miloš Vec; ein farbigeres, weniger abgegriffenes Ersatzwort für "ausgelegt". Recht hat er.

Denn das, nicht wahr, ist die Aufgabe der Gerichte, auch des Verfassungsgerichts: Gesetze auszulegen. Nicht Gesetze zu erlassen. Oder gar ein neues Grundrecht in die Verfassung zu schreiben.

Wohin sind wir gekommen, wenn wir uns darüber freuen müssen, daß wenigstens die Richter in Karlsruhe noch die Gesetze hervorbringen, die zu beschließen die dafür berufenen Organe offenbar nicht mehr schaffen. Auch wenn sie es nur in Form von Urteilen tun können, deren Verbindlichkeit aber nicht hinter der von Gesetzen zurücksteht.



Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin keineswegs gegen den Inhalt dieses Urteils. Es bestätigt, verschärft allerdings auch, was Wolfgang Schäuble wieder und wieder über die Online- Durchsuchung gesagt hat - daß sie zur Bekämpfung des Terrorismus erlaubt werden soll, und zu sonst nichts.

Ich habe das damals, als es im vergangenen September diskutiert wurde, vorsichtig befürwortet, war mir aber - wie auch jetzt noch - meiner Beurteilung nicht sicher. Das BVG hat jetzt die Umstände präzisiert, unter denen die Durchsuchung erlaubt ist. Das macht es mir leichter, eine solche Regelung positiv zu sehen.

Also, nicht darum geht es mir. Sondern darum, daß noch kaum ein Urteil des BVG so deutlich wie dieses eine Tendenz gezeigt hat, die freilich schon lange zu beobachten ist: Daß die Verfassungsrichter rechtsschöpferisch tätig werden.

Sie haben das bisher meist getan, indem sie einen Rahmen für gesetzliche Regelungen gesetzt haben, der eingehalten werden muß, damit ein Gesetz mit einem oder mehreren der Grundrechte vereinbar ist. Insofern kann man das immer noch als Auslegung eben dieser Grundrechte sehen; als Jurisdiktion und nicht Gesetzgebung.

Wenn aber jetzt ein Autor wie Vec - als habilitierter Jurist am MPI für Europäische Rechtsgeschichte immerhin zum Thema ausgewiesen - schreibt, die Karlsruher Richter hätten "ein neues Grundrecht aus der Taufe gehoben", dann frage ich mich doch, ob das eigentlich ein Grund zum Jubeln ist. Ob man sich darüber freuen soll, daß die Grenze zwischen Judikative und Legislative zusehends aufgeweicht wird.



Zumal es mit der Grenze zwischen Legislative und Exekutive ja nicht besser bestellt ist. Knapp fünfzig Abgeordnete des Bundestags sind als Minister oder Parlamentarische Staatssekretäre zugleich Teil der Exekutive. Eine Personalunion, die z.B. im amerikanischen System strikter Gewaltenteilung völlig undenkbar wäre (sieht man von der Singularität ab, daß der Vizepräsident zugleich Präsident des Senats ist; ein Amt, das er aber normalerweise nicht ausübt).

Je mehr sich die Legislative von ihrer eigentlichen Aufgabe entfernt und sich sozusagen in das operative Geschäft einmischt, umso weniger scheint sie noch dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Vor allem dann, wenn es gilt, Gesetze zu beschließen, die unsere Freiheit nicht einengen, sondern sie erweitern oder zumindest schützen. Diesen Schutz des Einzelnen vor dem Staat - ja eigentlich Sinn und Zweck der Grundrechte - scheinen die Gesetzgebungsorgane zunehmend an die Richter in Karlsruhe delegieren zu wollen.

Wo das aber nicht hingehört. Es sei denn, man will eine neue Verfassungs- Wirklichkeit, in der das Parlament den klassischen Part der Exekutive spielt, den Interessen der Staatsmacht zu dienen; während zugleich die klassische Funktion des Parlaments, die Freiheit des Bürgers gegen den Staat zu verteidigen, an die Judikative weitergereicht wird.

Das allerdings wäre eine neue Republik. Noch haben wir sie nicht.

Der kluge Wolfgang Schäuble hat im Oktober 2007, als die Diskussion über die Online-Durchsuchung auf ihrem Höhepunkt war und in Karlsruhe bereits darüber verhandelt wurde, bündig gesagt: "Karlsruhe schreibt Urteile, keine Gesetze".

Dem ist nichts hinzuzufügen.

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27. Februar 2008

Mein Gott, Walter! Der "Spiegel". Die Lüge. Und warum Zuverlässigkeit in der Politik unabdingbar ist

Lieber Leser, wir machen jetzt einen Assoziationstest. Ganz schnell: Nennen Sie spontan die Stammtisch- Weisheit über Politik, die Ihnen als erste in den Sinn kommt!

Sie haben "Die Politiker lügen"? Prima. Gratuliere. Sie haben Ihr Ohr am Mund des Volkes. Sie wissen, was auch noch der Doofste über "die Politiker" weiß.



Im aktuellen "Spiegel" (9/2008) darf ein Autor namens Franz Walter die gesamte Seite 22 damit füllen, diese Stammtisch- Weisheit auszubreiten.

In zwei Punkten allerdings unterscheidet sich Bruder Franz von den anderen Stammtischbrüdern.

Erstens redet er gebildet daher. Dazu ist er verpflichtet, denn er ist Professor.

Also sagt er nicht: "Die Politiker lügen, diese Gauner, diese dreckerten", sondern er schreibt:
Irreführung, Maskerade, das glanzvolle Theater verlangen weit mehr Geschick, Raffinesse, Phantasie als die komplexitätsscheue Wahrheitsliebe und die orthodoxe Werktreue.
Oder, auch schön:
Ein Stratege operiert geheim; er täuscht, legt falsche Spuren, hebt Fallgruben aus, lauert hinter Hecken. Ein Stratege und großer Politiker muß - ja, er muß - zuweilen Potemkinsche Dörfer errichten, ohne Skrupel von links nach rechts und zurück rochieren, mindestens den Gegner durch falsche Ankündigungen in die Irre führen.
Er muß, meint der Autor Walter. Und da haben wir den zweiten Punkt, in dem er sich von seinen Brüdern an den Stammtischen unterscheidet:

Nicht nur breitet er das, was diese auch wissen, aber kürzer sagen können, so geschwätzig aus, als hätte er bei Adorno studiert. Sondern er findet es vor allem gut, daß die Politiker lügen. Da geht er einen Schritt weiter als seine Brüder an den Stammtischen, wenn diese sich über die Lügen der Politiker empören.

Franz Walter empört sich nicht. Im Gegenteil: Er schnalzt sozusagen mit der Zunge, wenn er schreibt: "Nehmen wir Konrad Adenauer, Charles de Gaulle oder Otto von Bismarck - sie alle waren große Lügner vor dem Herrn".

Ja toll. Der Stammtisch darf sich freuen: Wußten wir's doch!



Was ist ärgerlicher an diesem - ja was? Essay? Kommentar? "Kasten"? Ist es die Art, wie da ein Autor einen einzigen Gedanken auf Seitenformat dehnt? Ist es der armselige Gehalt dieses Gedankens, der ungefähr so viel mit wissenschaftlicher Politologie zu tun hat wie die Weisheit "Alles ist relativ" mit der Relativitätstheorie?

Oder ist es die Weise, wie Walter seine Meinung zu einer aktuellen innenpolitischen Frage ins Bedeutend- Allgemeine hebt?

Denn er schreibt ja nicht deshalb etwas über die Lüge in der Politik, weil das doch mal gesagt werden mußte. Sondern er schreibt - der "Kasten" ist ja nicht zufällig in den Artikel über Becks "Wende zur Linkspartei" eingerückt - als flankierende Maßnahme zu dem, was er vor ein paar Tagen in "Spiegel Online" geschrieben hat.

Dort begeisterte er sich für "Becks Korrektur der alten Schwüre, von der Linken nicht einmal einen Kanten alten Brots anzunehmen". Die SPD dürfe "ein 'Rien ne va plus' in der Koalitionsbildung nicht noch durch Prinzipiendogmatismus und starre Abgrenzungsformeln festigen. Eine solche Partei muß sich intelligent, auch unorthodox bewegen, muß Optionen nutzen."

Mit anderen Worten, sie muß vor der Wahl lügen. Und damit wir alle verstehen, daß das auch gut so ist, will Franz Walter uns jetzt erklären, daß derartige Lügnerei nun mal zum Wesen des Politischen gehört. Jener Franz Walter, der schon vor fast einem Jahr ein "rot- rot- grünes Bündnis" als eine der Möglichkeit für die Regierungsbildung 2009 ins Spiel gebracht hat.

Ein Politologe also, dem man sicher kein Unrecht tut, wenn man vermutet, daß er - Mitglied der SPD seit 1972 - seine politischen Präferenzen nicht verbirgt. Daß er nicht nur mit dem kühlen Blick des Wissenschaftlers, sondern auch mit dem heißen Herzen des politisch Engagierten an seinen Gegenstand herantritt.



In diesem Fall freilich nicht sehr nah an ihn herantritt. Denn was er über das Lügen in der Poltitik schreibt, hat eben nur Stammtisch- Niveau. Machiavelli im Comic- Format. Am Ende hat der die Nase vorn, der die anderen am besten übers Ohr haut.

Nur ist das ja nicht so. Was einen Wissenschaftler interessieren sollte, das ist die Frage, warum nicht ständig gelogen wird, obwohl es doch scheinbar für den Lügner nur vorteilhaft ist. Das ist die Frage nach der Evolution sozialen Verhaltens, nach der Notwendigkeit des Vertrauens für das Zusammenleben.

Eine Gesellschaft, deren führende Mitglieder sich so benehmen würden, wie Walter sich die Politik vorstellt, wäre nicht lebensfähig. Warum Gesellschaften trotzdem funktionieren, warum man dem Wort des anderen in der Regel vertrauen darf, darüber hat sich schon David Hume Gedanken gemacht. Die moderne Spieltheorie - beispielsweise die Forschungen des Nobelpreisträgers Robert Aumann zu wiederholten Spielen - befaßt sich damit.

Ein Kernbefund, auf den diese Theorien aufbauen, ist die Änderung des Verhaltens, wenn Spiele sich wiederholen: Wer am Anfang betrügt, der kann einen Vorteil haben. Aber der andere merkt das ja irgendwann. Je öfter ein Spiel wiederholt wird, umso weniger zahlt sich also Betrug aus. Am Ende gewinnt der Zuverlässige, nicht der Lumpenhund. Jedenfalls in der Regel. Jedenfalls, nachdem das Spiel hinreichend oft wiederholt wurde und jeder weiß, wie er den Mitspieler einzuschätzen hat.

So ist es auch in der Politik. Man kann vielleicht ein, zweimal lügen und davonkommen. Wer notorisch lügt, dem geht es - jedenfalls in einem demokratischen Rechtsstaat - wie Richard Nixon.



Große Staatsmänner waren deshalb, entgegen Walters Vermutung, keineswegs Lügner. Sie wußten, daß sie nur dann Erfolg haben konnten, wenn ihr Wort galt; wenn andere sich auf sie verlassen konnten. Denn wer sein Wort bricht - was ist dessen Wort noch wert? Wer sich nicht an Zusagen hält - wozu mit dem Betreffenden überhaupt noch verhandeln, um Zusagen von ihm zu bekommen?

Selbst von Adolf Hitler hat der britische Ministerpräsident Chamberlain erwartet, daß er sich an seine Zusagen von München 1938 halten würde. Er war - Churchill schildert das ausführlich im ersten Band seiner Geschichte des Zweiten Weltkriegs - regelrecht entrüstet, als sich herausstellte, daß Hitler ihn belogen hatte. Wozu hatte man dann überhaupt verhandelt?

Natürlich gehört zum Politischen das, was die Kunst der klassischen Diplomatie ausmacht: Seine Ziele nicht immer offenzulegen. Bündnisse zu wechseln, wenn die Situation es verlangt. Es gehört "Öffentlichkeitsarbeit" dazu, wie sie Bismarck mit seiner verkürzten Mitteilung über die Emser Depesche perfekt vorgeführt hat.

Aber das ist etwas anderes als Wortbruch. Es ist etwas vollkommen anderes, als ein Versprechen zu geben und sich dann nicht daran zu halten. Sei es die Zusagen gegenüber einem Verhandlungspartner. Sei es eine Garantie, wie sie Frau Ypsilanti ihren Wählern gegeben hat.



Was Walter an historischen Beispielen anführt, belegt überhaupt nicht seine These.

Nehmen wir Willy Brandt, dessen schnellen Vorstoß zur Bildung der sozialliberalen Koalition in der Wahlnacht des 28. September 1969 Walter am Ende seines Textes ausführlich darstellt; wohl in der Hoffnung, etwas vom Glanz Brandts auf Kurt Beck zu lenken. Hat Brandt sein Wort gebrochen, als er die Koalition mit Walter Scheel schmiedete? Hatte er den Wählern eine Garantie gegeben, in keiner Form mit der FDP zusammenzuarbeiten?

Nein. Im Gegenteil: Brandts Parteifreund Gustav Heinemann, zu dessen Wahl zum Bundespräsidenten sich bereits im März 1969 SPD und FDP verbündet gehabt hatten, sprach wenige Tage nach seiner Wahl von einem "Stück Machtwechsel (...) Das ist hier nicht in breiter Front der Fall, das wird sich erst bei den Bundestagswahlen ergeben." Deutlicher konnte er nicht sagen, daß die SPD eine Koalition mit der FDP anstrebte.

Als Willy Brandt in der Wahlnacht die Weichen für diese Koalition stellte, statt langwierige Verhandlungen in den nachfolgenden Tagen abzuwarten, handelt er geschickt. Er hat weder gelogen noch ein gegebenes Wort gebrochen, nicht einmal im Ansatz.

Oder nehmen wir Konrad Adenauer, den Walter für einen großen Lügner hält. In Wahrheit war er einer der verläßlichsten Politiker seiner Zeit. Die Geradelinigkeit, mit der er seine Ziele verfolgte, machte ihn zu einem starken Partner des Westens; viel stärker, als es dem tatsächlichen Gewicht der anfangs noch nicht souveränen Bundesrepublik entsprach.

Er war so vertrauenswürdig, der Alte Herr, daß er es sich leisten konnte, über seine rheinische Listigkeit selbst Witze zu machen. "Wie mein Freund Pferdmenges unterscheide ich drei Steigerungen der Wahrheit: Die einfache, die reine und die lautere Wahrheit. Ich will Ihnen jetzt die reine Wahrheit sagen ...", soll er einmal zum Besten gegeben haben.



Und zum Schluß noch ein Zitat:
Überdies hat der Wettbewerbs- und Entstrukturierungsfuror der Deutungseliten nach zwei Jahrzehnten der diskursiven Hegemonie nicht nur zu wünschenswerten Deregulierungen verknöcherter Bürokratien und zu einem löblichen Anstieg selbstverantwortlicher Individualität geführt, sondern eben auch zu einer massiven Denunziation und Entwertung sozialstaatlicher Normen - wie Fairness, Ausgleich, Integration, Verknüpfung, Zusammenhalt, Solidarität - sowie zu einer Destruktion sozialstaatlicher, klassenintegrierender, Bindungen stiftender Institutionen.
Wenn man sich an diesem Lindwurm eines deutschen Satzes entlanggearbeitet hat und bis ungefähr zum Ansatz des Schwanzes gekommen ist, dann erfährt man: Modernen Gesellschaften fehlt es an Fairness.

Schau an, schau an. Wer schrieb das? Sie werden es ahnen, lieber Leser; denn sonst hätte ich es ja nicht zitiert: Diesen schönen langen Satz schrieb, vor gut einem Jahr, Franz Walter.

Mit Dank an Enha. Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

Marginalie: Dittsche und Krömer. Hildebrandt und Harald Schmidt. Was unterscheidet Comedians von Kabarettisten?

Ist es nur eine Frage der sprachlichen Mode, daß diejenigen, die sich auf die Bühne stellen und Lustiges vortragen, früher Kabarettisten hießen und heute meist Comedians? Spiegelt sich darin einfach die Verlagerung vom Französischen als Quelle von Fremdwörtern zum Englischen wider? Verhält sich also der Comedian zum Kabarettisten wie, sagen wir, der Hair Stylist zum Coiffeur oder das Model zum Mannequin?

Bisher hatte ich darüber nicht nachgedacht. Aber gestern abend, während einer Sendung, die dafür beim Ansehen Zeit ließ - Dieter Hildebrandt und Harald Schmidt waren bei Maischberger zu Gast - , habe ich es. Nachgedacht.

Und da ist mir eine Einsicht gekommen. Vielleicht stimmt sie gar nicht. Aber sie hatte, als sie sich einstellte, für mich den Charakter des unmittelbar Evidenten:

Der Comedian erfindet eine Figur und stellt sie auf die Bühne. Der Kabarettist dagegen stellt sich selbst als Figur auf die Bühne.



Die beiden Kabarettisten Hildebrandt und Schmidt waren in diesem Talk, sie sind generell in Interviews und Talkshows genau diejenigen, die sie auch auf der Bühne sind. Vielleicht einen Tick leiser. Vielleicht nicht ganz so witzig; niemand hat ihnen ja Gags für die Sendung aufgeschrieben, auch nicht sie selbst vermutlich.

Aber der Stil ist derselbe. Die Attitüde ist dieselbe wie beim Auftritt auf der Bühne: Bei Hildebrandt die des Anständigen, den es aus Verzweiflung über die Welt manchmal in Zynismen treibt. Bei Harald Schmidt die des Zynikers, der eine Fassade aufbaut, und niemand weiß, was hinter dieser Fassade ist. Ob überhaupt etwas dahinter ist.



Wie anders die Comedians! Sie haben eine Figur erfunden, sie oft sorgfältig im Lauf der Zeit entwickelt. Alexander Bojcan zum Beispiel den Kurt Krömer, Olli Dittrich den Dittsche. Beide Meister ihres Fachs, beide große Comedians.

Natürlich gehen in solche Figuren die eigenen Erfahrungen des Autors und Darstellers ein, auch manches von seiner Persönlichkeit. Anders ginge es ja gar nicht; anders würde die Figur nicht Glaubwürdigkeit und Tiefe erhalten.

Aber wenn Olli Dittrich in einem seiner seltenen Interviews auftritt, dann benimmt er sich nicht wie Dittsche, auch nicht wie Dittsche light. Er ist dann nicht der Loser, der sich für seinen Mißerfolg im Leben dadurch schadlos hält, daß er auf eine grandiose Weise alles zu verstehen und alles zu erklären versucht; sich sozusagem in seinem Kopf die große weite Welt zurückholend, die ihm in seiner bürgerlichen Existenz versperrt ist.

Sondern dann ist er in vielem das Gegenteil von Dittsche - nicht schwadronierend, sondern leise. Nicht mit diesem leer- verzweifelten Gesichtsausdruck, mit dem Dittsche in diese Welt guckt, sondern leicht spöttisch, ein wenig selbstironisch lächelnd. Ja, er hat Züge gemeinsam mit Dittsche, das hat er einmal in einem Interview gesagt; so wie Bojcan mit dem Kurt Krömer. Es ist die Art von Gemeinsamkeit, die auch ein Romanautor meist mit seinem Protagonisten hat; mehr aber nicht.

Hildebrandt und Schmidt dagegen benahmen sich gestern Abend bei Maischberger haargenau, wie man Hildebrandt und Schmidt kennt. Auch da, wo es um etwas Ernstes ging wie die deutsch- polnischen Beziehungen.

Hildebrandt hatte, wie es seine Art ist, eine moralisch unterfütterte Stichelei vorbereitet, in Gestalt eines "Geschenks", das ein aus Polen angereister Gast Schmidt unerwartet offerierte.

Und Schmidt reagierte, wie man es eben von Schmidt erwartet. Auf die seinerzeitigen Polen- Witze in seiner Show angesprochen, behauptete er, die hätte er nur gebracht, weil er gemerkt habe, daß er den polnischen Akzent beherrscht.

Und stellte das auch gleich unter Beweis. Mit ein paar Sätzen, die unverkennbar einen ungarischen Akzent vorführten.

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Zitat des Tages: Kurt Beck - der deutsche Barack Obama?

Der deutsche Barack Obama heißt in gewisser Weise Kurt Beck. (...) Denn wenn nichts Unvorhergesehenes mehr passiert, ist Beck der Kandidat, mit dem die deutsche Sozialdemokratie in die Feldschlacht zieht. Ohne TV-Duell. Ohne Bürgergespräch. Ohne Gegenkandidat. Ohne wirkliche Wahl. (...) Kurt Beck nominiert Kurt Beck, das ist die deutsche Wirklichkeit.

Gabor Steingart, Leiter des Washingtoner Büros des gedruckten "Spiegel", in einem lesenswerten Artikel. Man spürt aus Steingarts Text etwas heraus, was man bei deutschen Amerika- Korrespondenten oft findet: Sie reisen USA-kritsch dorthin und sind früher oder später von den USA fasziniert; auch und gerade von ihrem in Deutschland vielgescholtenen politischen System.

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Marginalie: Wer verunglimpft Barack Obama?

Zwei aktuelle Meldungen aus dem US-Wahlkampf:

Auf einer Wahlveranstaltung von John McCain hat Bill Cunningham, Moderator einer Radio Talk Show, Barack Obama zweimal "Barack Hussein Obama" genannt.

Senator McCain, der während dieses Auftritts nicht auf der Bühne war, hat sofort reagiert. Er erklärte zu dem Vorfall:
I have repeatedly stated my respect for Sen. Obama and Sen. Clinton, and I will treat them with respect. (...) I regret any comments that may be made about these two individuals who are honorable Americans, we just have strong philosophical differences, so I want to disassociate myself from any disparaging remarks that may have been said about them. (...) I absolutely repudiate such comments, and again I will take responsibility it will never happen again. It will never happen again.

Ich habe wiederholt meinen Respekt für Senator Obama und Senatorin Clinton zum Ausdruck gebracht, und ich werde sie mit Respekt behandeln. (...) Ich bedauere jegliche Bemerkungen, die möglicherweise über diese beiden Personen gemacht werden, die ehrenwerte Amerikaner sind. Wir haben starke Differenzen in unserer Philosophie. Also, ich möchte mich von jeglichen herabsetzenden Bemerkungen distanzieren, die über sie gesagt worden sein könnten. (...) Ich weise solche Bemerkungen absolut zurück, und ich übernehme ausdrücklich die Verantwortung dafür, daß das nicht wieder vorkommt. Es wird nicht noch einmal vorkommen.


Zweite Meldung:

Der Drudge Report berichtet am Montag, daß ihm aus dem Wahlkampf-Team von Hillary Clinton eine Email zuging, mit einem angehängten Foto. Das Foto - Sie können es sich hier ansehen - zeigt Barack Obama in einer nicht vorteilhaften Kleidung, angetan mit einem Turban, der mindestens so starke Assoziationen zum Islam wecken dürfte wie die Erwähnung von Obamas zweitem Vorname "Hussein".

In der Mail aus Hillarys Team heißt es dazu laut Drudge Report scheinheilig: "Wouldn't we be seeing this on the cover of every magazine if it were HRC?" Würden wir das nicht auf der Titelseite jedes Magazins sehen, wenn es Hillary Rodham Clinton wäre?

Ein Stellungnahme von Hillary Clinton des Inhalts, daß sie sich von solchen Methoden distanziert und daß das nicht mehr vorkommen wird, ist bisher nicht bekanntgeworden.

Alles, was im Augenblick an Erklärungen aus dem Clinton- Lager vorliegt, ist dies: "Mrs Clinton's campaign team declined to deny that it had sent the photo to Drudge". Das Wahlkampf- Team von Clinton stritt nicht ab, daß es die Fotos an Drudge geschickt hat.



Alter Witz: Was sind die Steigerungsformen von "Feind"? - Antwort: Feind, Todfeind, Parteifreund.

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26. Februar 2008

Gedanken zu Frankreich (23): Sarkozy nervt die Franzosen

Wir hatten das kürzlich schon: Kaum etwas ist so schwierig zu übersetzen wie Flüche, Sottisen, Schimpfereien, Obszönitäten. Wie überhaupt die Vulgärsprache, dieser Reichtum des Volks.

Schwer zu übersetzen, weil da jede Sprache ihren eigenen, mehr oder weniger unerschöpflichen Schatz an Bildern, an Metaphern, an Anspielungen hat. Keine Facette einer Sprache ist ausdrucksstärker und bildkräftiger als diejenige, deren wir uns bedienen, wenn uns der Mund übergeht, weil das Herz voll ist und wir eine schlechte Erziehung haben.

Als ich das kürzlich erwähnte, ging es um ein französisches Schimpfwort: "Connard" hatte ein französischer Schüler seinen Lehrer genannt. Dieser hatte ihm darauf eine Ohrfeige verpaßt und sieht jetzt, nachdem er schon zwei Tage in Haft genommen worden war, einem Verfahren wegen "schwerer Mißhandlung" entgegen.

In "connard" steckt "con", und das heißt dumm, blöd, idiotisch. Womit wir bei einer Meldung wären, die im Augenblick die Franzosen, nun gut, nicht erregt, aber doch beschäftigt. Bei uns hat sie es bis in "Spiegel Online", gebracht. Sogar der Pariser Korrespondent des gedruckten "Spiegel", Stefan Simons, hat zur Feder gegriffen, um zu beschreiben, was da passiert war.



Ich verlasse mich lieber auf den Bericht im Nouvel Observateur. Danach hat Sarkozy am vergangenen Samstag die jährliche Landwirtschafts- Ausstellung Salon de l'Agriculture besucht. Sarkozy nahm ein "Bad in der Menge" und drückte jede Hand, die er zu fassen bekam. Darunter die eines älteren Herrn, der sich das verbat. Es kam zu einem kurzen Wortwechsel, den der höchste Repräsentant Frankreichs, Nachfolger von de Gaulle und Mitterand, mit dem Satz beendete: "Casse-toi alors, pauvre con".

"Con", hier substantivisch verwendet, kennen wir schon. "Casser" heißt eigentlich "zerbrechen". "Zerbrich dich" - das ist die freundliche Aufforderung, sich wie das Rumpelstilzchen selbst zu zerreißen. Also, sagen wir im Deutschen, Leine zu ziehen, die Fliege zu machen, sich zu verpissen, sich zu verdrücken, abzuhauen. "Abhauen" ist die beste Übersetzung, die mir einfällt, weil im "Hauen" ja auch dieses Moment der Aggression steckt wie im "casser".

"Hau doch ab, armer Irrer" - das ist es, was Nicolas Sarkozy ungefähr gesagt hat. Nicht sehr höflich, aber auch nicht besonders schlimm. Zumal jener ältere Herr ihm in dem vorausgehenden Dialog entgegengerufen hatte "Tu me salis", du machst mich dreckig. Ja auch nicht sehr höflich.



Warum beschäftigt diese Lappalie die Franzosen so sehr, daß sogar der Korrspondent des gedruckten Spiegel, früher Peking, darüber glaubt berichten zu sollen?

Weil sie ihn leid sind, diesen Nicolas Sarkozy. Weil er ihnen bis zur Unterkante Oberlippe steht, dieser Sarkozy mit seiner Egomanie, seinem Machthunger, seiner Selbstentblößung, seiner Vulgarität.

Mal das öffentliche Geturtel mit Mme Bruni, mal die heimliche Hochzeit wie im Lore-Roman, mal die lächerliche SMS-Affäre mit Sarkozys Versuch, gerichtlich gegen eine Zeitschrift vorzugehen. Jetzt gerade versucht er, eine Entscheidung des Conseil Constitutionel auszuhebeln, der in seinen Funktionen unserem Verfassungsgericht entspricht.

On a ras le bol, es reicht den Franzosen. Und weil das ein weitverbreitetes Gefühl ist, wird jetzt schon eine harmlose, wenn auch etwas grobe Bemerkung Sarkozys zum Skandal.



Dabei hat er bei seinem Besuch dieser Landwirtschafts- Ausstellung etwas gesagt, das eigentlich viel mehr Aufsehen hätte erregen sollen: Er will die französische Küche in die Liste des Welt- Kulturerbes aufnehmen lassen.

Kein Witz. Es gibt seit 2003 eine Konvention über das Intangible Heritage, das ideelle Erbe. Also keine Gebäude, Brücken und dergleichen, sondern Sprachen, Sitten, Riten, Mythen, vom Untergang bedrohte handwerkliche Künste. Dergleichen.

Und da will Sarkozy also die französische Küche unterbringen, sie von der UNESCO anerkennen lassen, zwischen den Praktiken von Schamanen und dem Schmieden des Kris in Indonesien.

Begründung: "Nous avons la meilleure gastronomie du monde, enfin de notre point de vue". - "Wir haben die beste Küche der Welt, jedenfalls von unserem Standpunkt aus".

Von meinem Standpunkt aus, muß ich da Sarkozy entgegenhalten, kochte allerdings meine Großmutter die beste Küche der Welt. Vielleicht sollte ich bei der UNESCO auch einen Antrag auf Anerkennung als Weltkulturerbe stellen. Immerhin kochte sie eine sehr interessante Küche, die der Wenden und Sorben.

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Marginalie: Woher kommen die Stimmen für die Kommunisten in Hamburg?

In Hamburg hat "Die Linke" beachtliche 6,4 Prozent geholt. Davon ist viel die Rede. Etwas anderes ist mindestens ebenso bemerkenswert, wird aber kaum kommentiert: Die extreme Rechte ist so gut wie verschwunden.

In einem Bundesland, in dem die Schill- Partei 2001 satte 19,4 Prozent erreichte und 2004 immerhin noch 3,6 Prozent, mehr als die FDP; in dem bei den beiden Wahlen zuvor die REPs plus die DVU zusammen 7,4 Prozent (1993) und 6,8 Prozent (1997) bekommen hatten - in diesem Stadtstaat war die extreme Rechte bei diesen Wahlen wie vom Erdboden verschluckt. Die REPs und die NPD traten gar nicht erst an. Die DVU brachte es auf ganze 0,8 Prozent.

Wo sind sie geblieben, die rechtsextremen Wähler in Hamburg? Dreimal dürfen Sie raten. Oder Sie verzichten auf's Raten und lesen in der FAZ, was dazu die "Forschungsgruppe Wahlen" herausgefunden hat:
Am Sonntag jedenfalls fielen bei der Linkspartei die Stimmen vormaliger Nichtwähler und – als größte Gruppe – vormaliger Wähler von Splittergruppen von Schill über Regenbogen bis NPD stärker ins Gewicht als alle Stimmen vormaliger SPD-, GAL- und CDU-Wähler zusammen.
Wir haben uns den Wähler der Partei "Die Linke" nicht als einen klassenbewußten Arbeiter vorzustellen, der seinen Marx und Lenin gelesen hat. Wir haben ihn uns vorzustellen als einen aus dem Subproletariat, aus der rechtsextremen Szene, aus dem Lager der immer Unzufriedenen.

Diese Leute wählen keine der "etablierten Parteien", der "Altparteien", oder wie immer das genannt wird. Sie wählen diejenigen, die "dagegen" sind - gegen das "System", gegen die Demokratie, gegen die Globalisierung, gegen die freiheitliche Ordnung dieser Gesellschaft.

Rühren die Kommunisten so die Trommel, wie das jetzt "Die Linke" getan hat, dann kassieren sie viele dieser Stimmen. Gibt es keine linke Protestpartei oder ist diese unauffällig, dann wählte man halt NPD, DVU, REPs. Oder die Schill- Partei, die freilich auf ihrem Höhepunkt auch viele bürgerliche Wähler angesprochen hat.



War es in Hessen anders?

Sind wenigstens dort diejenigen, die den Kommunisten den Einzug in den Landtag geschenkt haben, klassenbewußte Proletarier? Sind es ehemalige linke Sozialdemokraten, die ihrer Partei den Rücken gekehrt haben? Nein. Die Zahlen der "Forschungsgruppe Wahlen zeigen, daß
die Hamburger Linkspartei nicht nur den Inhalten und der Herkunft der Mandatsträger, sondern auch der Wählerstruktur nach keine andere ist als die, die der SPD-Vorsitzende Beck als Mehrheitsbeschafferin für die hessische SPD-Spitzenkandidatin Ypsilanti im Auge hat.
Auch das ist ein Aspekt des Bestrebens der hessischen SPD, sich mit Hilfe der Kommunisten an die Regierung wählen zu lassen: Sie würde den Machtwechsel dann zwar auf der Ebene der Funktionäre und Mandatsträger den Kommunisten verdanken, bei den Wählern aber einer unappetitlichen rotbraunen Melange.



Kurz: Wer extrem links oder extrem rechts wählt, der wählt nicht in erster Linie links oder rechts, sondern er wählt Extremisten.

Das zeigt auch das Beispiel Frankreich. Dort wurde die einst große Kommunistische Partei nicht etwa von den Sozialisten beerbt, sondern hauptsächlich von dem rechtsextremen Front National von Le Pen.

Dieser ist heute, bei den Wählern, die größte Arbeiterpartei Frankreichs. Im November 2006 hat das französische Institut IFOP die Wählerschaft dieses Front National unter die Lupe genommen. In Frankreich sind 32 Prozent der Bevölkerung Fabrikarbeiter oder kleine Angestellte (ouvriers, employés). Unter den Wählern Le Pens machen sie aber fast die Hälfte aus (47 Prozent).



Auf den ersten Blick scheinen diesen Analysen dem Umstand zu widersprechen, daß bei Wahlen in den Neuen Ländern immer wieder Rechtsextreme gut abschneiden, obwohl dort die Kommunisten stark sind.

Warum wählen Mecklenburger Rechtsextremisten, anders als die Hamburger, selten die Kommunisten? Vermutlich - das erscheint mir jedenfalls als plausible Erklärung -, weil die SED sich zu Zeiten ihrer Herrschaft ungefähr so als Protestpartei präsentierte, wie der Kardinal Meißner ein linker Libertärer ist.

Wer im Osten die Kommunisten wählt, der will nicht Aufruhr, sondern die Friedhofsruhe der DDR. Wer hingegen Aufruhr und Umsturz will, oder wer auch nur seine allgemeine Protesthaltung zum Ausdruck bringen möchte, der wählt dort nicht die Kommunisten, sondern eine der rechtsextremen Parteien.

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25. Februar 2008

Zitat des Tages: "Kein Wortbruch"

Es ist kein Wortbruch, wenn man sich mit den Realitäten, die konkret in Hessen jetzt vorliegen mit komplizierter Regierungsbildung, auseinandersetzt.

Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Andrea Nahles heute in den "Tagesthemen" der ARD.

Kommentar: Ja ja, das Kleingedruckte.

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Über das Duzen im Internet

Das Internet begann als ein Unternehmen der Wissenschaft und dann von jungen Leuten (die Militärs, deren Werk es ursprünglich gewesen war, lassen wir einmal beiseite).

Wissenschaftler kommunizieren auf Englisch, und sie legen keinen großen Wert auf Formalien im Umgang miteinander. Junge Leute auch nicht; jedenfalls taten sie es nicht in den achtziger Jahren, als das alles begann.

Also begann die Kommunikation im Internet in einem legeren Stil. Dazu gehörte, daß man sich erdachte, oft bizarre Namen gab, Nicks oder Pseudos genannt; "Zettel" zum Beispiel. Dazu gehörte, daß man einander selbstverständlich duzte.

Dabei spielte ein Mißverständnis eine Rolle. Das englische "you" klingt so ähnlich wie "du". Also sind viele Deutsche der Meinung, es heiße "du".

Es heißt aber nicht "du". Es heißt, streng genommen, auch nicht "Sie". Sondern es heißt "Ihr". Das gute alte, das altfränkische "Ihr", das man z.B. noch bei Karl May findet. Wenn dessen Helden sich auf Englisch unterhalten, dann sprechen sie einander, ganz korrekt, mit "Ihr" an. Ist Karl Mays Text aber die "Verdeutschung" eines auf Spanisch, auf Französisch oder auch auf Persisch geführten Gesprächs, dann sind die Sprechenden per "Sie".



Ein alter Witz handelt von einem Deutschen, der einem Amerikaner "das Du anbieten" möchte und das so formuliert: "You can say you to me".

Im Amerikanischen bietet man einander aber nicht nur nicht das Du an, man "bietet" einander die vertraulichere Variante der Anrede im allgemeinen überhaupt nicht "an". Sondern sie ergibt sich, sobald die Bekanntschaft einen gewissen, ganz frühen Grad erreicht hat. Dann ist man "on first name terms", redet sich also mit dem Vornamen an.

Allenfalls weist jemand darauf hin, daß er damit einverstanden ist, indem er so etwas einfließen läßt wie "By the way, my friends call me Dan". Undenkbar, daß man das mit ineinander verschränkten Armen, gemeinsamem Trunk, gar einem Kuß feiern würde.

Bei Wissenschaftlern ist die Anrede mit dem Vornamen bereits dann üblich, wenn man auch nur gemeinsam auf einer Konferenz war und dort vielleicht ein paar Worte gewechselt hat. Zu bedeuten hat das so gut wie nichts; schon gar nicht so etwas wie Vertrautheit oder Freundschaft. Deutsche mißverstehen das notorisch.

Lustig ist das vor allem dann, wenn man vom Englischen ins Deutsche wechselt.

Beispiel: Man lernt auf einer Konferenz jemanden kennen, sagen wir einen Holländer oder Polen, der sowohl das Englische als auch das Deutsche beherrscht. Man ist während der Diskussionen der Konferenz "on first name terms". Dann geht man vielleicht gemeinsam essen, und es ergibt sich aus irgendeinem Grund, daß die Runde sich jetzt auf deutsch unterhält. Ich habe es erlebt, daß dann ein frisch promovierter junger Deutscher einen hochberühmten holländischen Professor, weit über sechzig, fröhlich duzte - man hatte sich doch auf der Konferenz beim Vornamen genannt!

So etwas kann schon peinlich sind. Ein kleiner clash of cultures.

Im Französischen gelten wiederum andere Regeln als im Deutschen über das "tutoyer", das Duzen. Ich habe darüber etwas geschrieben, als ich mich vor knapp einem Jahr schon einmal mit dem Thema des Duzens befaßt habe. Damals aber nicht unter dem Aspekt der Kommunikation im Internet.



Diese nun also war am Anfang von Wissenschaftlern geprägt und dann immer mehr von jungen Leuten, "Computer- Freaks", wie man in dieser Frühzeit gern sagte. Sie vor allem führten diesen lockeren Stil ein mit allen den lustigen Smilies, den lustigen Nicks, dem ganzen lustigen Ton.

Jetzt sind sie, die damals, in den Achtzigern, als Schüler und junge Studenten diesen Stil prägten, erwachsen geworden. Mit ihnen das Internet. Die unbeschwerte, oft auch unbedachte Plapperei (englisch "chat"), das oft von Faktenkenntnis freie Räsonnieren in den Foren ist durch das solidere, ernsthafte Web 2.0 ersetzt, mindestens ergänzt worden. Statt der Nicks wird auch immer öfter unter dem eigenen bürgerlichen Namen geschrieben.

Nur die Duzerei - sie ist seltsamerweise weitgehend erhalten geblieben. Menschen, die, träfen sie sich im ICE oder an der Hotelbar und kämen ins Gespräch, nicht auf den Gedanken kommen würden, einander stracks zu duzen, tun das im Web.

Ich fand das immer ein wenig seltsam, habe mich aber dem Duzen gefügt, solange es nun einmal allgemein üblich gewesen war. In den letzten Jahren ist aber so etwas wie eine leichte Tendenz zum, benutzen wir einmal das häßliche Wort, sprachlichen Multikulti zu beobachten. Mal redet man einander so an wie auch im richtigen Leben, mal wird weiter geduzt, ob man einander nun gut kennt oder nicht.

So ist es auch in "Zettels kleinem Zimmer". Jeder hält es, wie er mag. Leute, die einander länger aus dem Web kennen, die vielleicht in Mail- Kontakt stehen, duzen einander meist; so handhabe ich es jedenfalls. Wenn ich jemanden nicht näher kenne, sieze ich ihn genauso, wie ich das täte, wenn wir einander woanders als im Web begegneten.

Dabei kann es schon einmal - wie auch im richtigen Leben - passieren, daß man nicht mehr weiß, ob man einander nun eigentlich duzt oder siezt. Viele kennen diese Situation, daß man dann vorsichtig tastend herauszufinden versucht, wie denn in dieser Hinsicht die Dinge stehen.

Ich habe es aber auch schon erlebt, daß mich jemand anrief und als erstes ganz unbefangen fragte: Äh, ich bin da nicht mehr sicher - duzen oder siezen wir uns eigentlich?

Wenn jemand das fragt, dann ist es meist angezeigt, sich auf das "Du" zu verständigen.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Adolph Freiherr von Knigge; zeitgenössisches Porträt. Copyright erloschen.

24. Februar 2008

Zitat des Tages: Was Kurt Beck großartig findet

Ich finde, das ist ein großartiges Ergebnis.

Kurt Beck heute Abend über das Abschneiden der SPD in den Hamburger Bürgerschaftswahlen; laut gegenwärtiger ARD- Hochrechnung 34,2 Prozent, laut ZDF- Hochrechnung 33,8 Prozent.

Hier findet man die Wahlergebnisse der SPD bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen seit 1946:

1946: 43,1; 1949: 42,3; 1953: 45,2; 1957: 53,9; 1961: 57,4; 1966: 59,0; 1970: 55,3; 1974: 45,0; 1978: 51,5; 1982 (Juni): 42,1; 1982 (Dez): 51,3; 1986: 41,7; 1987: 45,0; 1991: 48,0; 1993: 40,4; 1997: 36,2; 2001: 36,5; 2004: 30,5; 2008: ca 34,0.

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Marginalie: Das heutige Wahlergebnis könnte die Wiederwahl Bundespräsident Köhlers gefährden

Ein oft wenig beachteter Effekt jeder Landtagswahl ist, daß sich die Zusammensetzung der Bundesversammlung ändern kann. Bisher hat dort Schwarzgelb noch eine Mehrheit, die aber seit den Wahlen in Hessen und Niedersachsen auf nur drei Stimmen geschrumpft ist. Die heutigen Wahlen in Hamburg könnten sie weiter reduzieren, wenn auch wahrscheinlich noch nicht ganz verlorengehen lassen.

Die Wahl des Bundespräsidenten findet voraussichtlich am 23. März 2009 statt. Bundespräsident Köhler wurde bekanntlich ausschließlich mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP gewählt. Es ist gut möglich, daß es für seine Wiederwahl durch diese Parteien nicht mehr reicht.

Er wird dann entweder Stimmen bei den anderen Parteien suchen müssen, oder wir haben in gut einem Jahr einen neuen Bundespräsidenten.

Schon dreimal in der Geschichte der Bundesrepublik hat die Wahl eines Bundespräsidenten einen "Machtwechsel" eingeläutet:
  • Im März 1969 wurde, während in Bonn noch die Große Koalition unter dem CDU-Kanzler Kiesinger regierte, Gustav Heinemann mit den Stimmen von SPD und FDP zum Präsidenten gewählt; nach den Wahlen im Herbst bildeten diese beiden Parteien die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt. Aus diesem Jahr stammt das Wort, daß die Wahl Heinemanns "ein Stück Machtwechsel" gewesen sei.

  • Bei der Wahl des Bundespräsidenten im Mai 1979 war in Bonn noch die sozialliberale Koalition an der Macht, aber aufgrund der vorausgegangenen Wahlen zu den Landtagen hatte sie in der Bundesversammlung ihre Mehrheit verloren. Gewählt wurde der CDU-Mann Karl Carstens. Diese Wahl erwies sich als der Vorbote des Regierungswechsels zu dem CDU-Kanzler Helmut Kohl.

  • Der jüngste derartige Fall ist die Wahl von Horst Köhler, die im Frühjahr 2004, also noch unter der rotgrünen Koalition, bereits von Angela Merkel vorbereitet und durchgesetzt wurde.
  • Die jetzt für Hessen so heftig diskutierte Frage, ob sich ein Demokrat von den Kommunisten mitwählen lassen darf, könnte sich sehr gut in brisanter Form bei der Wahl des Bundespräsidenten im kommenden Jahr stellen. Mit auch dann wieder einer Weichenstellung für die Regierungsbildung nach den Bundestagswahlen im selben Jahr.

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    Zitat des Tages: "Wir Cubaner haben nur drei Probleme: Frühstück, Mittagessen, Abendessen"

    I hope against hope, however, that whoever takes over will make simply living in Cuba a bit less difficult: Today it is an ordeal for us Cubans to feed ourselves, to clothe ourselves, to use public transport and to have telephones. (Here we say that Cubans have only three problems: breakfast, lunch and dinner.)

    I put those prosaic aspects of life even before our dreams of political freedoms -- being able to express an opinion, to travel freely, to own something -- of which I know only from what my husband talked about.


    (Ich hoffe dennoch gegen alle Hoffnung, daß, wer auch immer die Macht übernimmt, er das Leben in Cuba einfach nur ein bißchen weniger schwierig macht: Heute ist es eine Tortur für uns Cubaner, uns zu ernähren, uns zu kleiden, öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen und zu telefonieren. (Bei uns sagen wir, daß die Cubaner nur drei Probleme haben: Frühstück, Mittagessen und Abendessen).

    Ich setze diese prosaischen Aspekte des Lebens selbst vor unsere Träume von politischer Freiheit - eine Meinung sagen zu dürfen, frei reisen zu dürfen, etwas besitzen zu dürfen -, wovon ich nur durch das etwas weiß, was mir mein Mann erzählt hat.)

    Die Cubanerin Ileana Marrero in der Washington Post von diesem Wochenende über die Lage in Cuba. Der Mann von Frau Marrero, der Journalist Omar Rodríguez Saludes, wurde im März 2003 verhaftet und wegen "Handlungen gegen die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Landes" zu 27 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er in einer Samisdat- Zeitung regimekritische Artikel geschrieben hatte.

    Dazu, unter welchen Bedingungen politische Gefangene in Cuba ihre Haft verbüßen, siehe hier. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion zu einer möglichen Regierungsbeteiligung von "Die Linke" in Hessen ist vielleicht auch diese Notiz über die Relaciones de amistad y colaboración, die Beziehungen der Freundschaft und der Zusammenarbeit, zwischen der damaligen (2007) PDS und der Kommunistischen Partei Cubas von Interesse.

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    23. Februar 2008

    Zettels Meckerecke: Vorsicht! Sie lesen "Spiegel Online"

    Jeder, der "Spiegel Online" nutzt, weiß: Was dort steht, prüft man besser nach, bevor man es verwendet. Gerade habe ich wieder erlebt, wie dringend erforderlich das ist.

    Da stand etwas in einem gestrigen Artikel, das einem die Haare zu Berge stehen läßt. Mindestens ein "Zitat des Tages" sollte das hergeben, dachte ich, als ich es gelesen habe:

    Da hatte der SPD- Spitzenkandidat in Hamburg, Michael Naumann, einen Mann in sein "Kompetenz - Team" für die morgigen Wahlen berufen, einen Schweden namens Carl Tham. Zu ihm schreiben Per Hinrichs und Gunther Latsch, beide übrigens vom gedruckten "Spiegel", aus dessen Ressort Deutschland II:
    Der 68-jährige Diplomat rief im Januar 2003 als schwedischer Botschafter in Berlin in einer Zeitungsanzeige zu einem Boykott israelischer Waren aus besetzten Gebieten auf. Begründung: Ein Kauf oder Verkauf israelischer Waren sei aktive Unterstützung für die illegale israelische Besatzung. (...) Die SPD verkauft den Israel- Boykotteur so: Er sei "dafür bekannt, dass er gern an den aktuellen politischen und kulturellen Debatten teilnimmt", so Naumann in einer Presseerklärung.
    Das nun allerdings schien mir ein dicker Hund zu sein. Nicht nur, so dachte ich nach der Lektüre, nimmt Naumann so jemanden offenbar ungeprüft in sein Wahlkampf- Team auf - sondern dann kommentiert er dessen offensichtlich anti- israelische Haltung auch noch in dieser Weise oder läßt sie so kommentieren. Mit einer Formulierung, die man als nachgerade zynisch empfinden muß. Mindestens als den Versuch einer grotesken Verharmlosung.

    Diesen Satz von Naumann also wollte ich als "Zitat des Tages" bringen, mit Hinweis darauf, daß er im Zusammenhang mit einem anti- israelischen Aufruf gefallen sei.



    Nun zitierte ich aber grundsätzlich nichts aus "Spiegel Online", was ich nicht nachgeprüft habe. Zum Glück pflegen Presse- Erklärungen ins Web gestellt zu werden. Zum Glück gibt es bei Google die Phrasen- Suche. Also haben ich die Phrase "dafür bekannt, dass er gern an den aktuellen politischen und kulturellen Debatten teilnimmt" bei Google eingegeben.

    Ergebnis: Zwei Fundstellen. Einmal trivialerweise der Artikel in "Spiegel Online" selbst. Und zum zweiten diese hier, die WebSite des Fraktions- Vorsitzenden der SPD in der Hamburger Bürgerschaft, Michael Neumann. Dort findet man die Presse- Erklärung, aus der Hinrichs und Latsch zitiert haben.

    Lesen Sie sie bitte. Sie werden feststellen, daß es überhaupt nicht um den gegen Tham erhobenen Vorwurf geht. Sondern es werden drei Mitglieder des "Kompetenz- Teams" vorgestellt, unter ihnen Carl Tham. Die Presseerklärung ist undatiert, aber sie muß mindestens fünf Wochen alt sein, denn schon am 14. Januar 2008 wird in einer anderen Meldung Carl Tham als bereits in dieses Team berufenes Mitglied erwähnt.

    Eine Passage also aus einer alten Pressemitteilung, in der logischerweise mit keinem Wort von den jetzt erhobenen Vorwürfen gegen Tham die Rede ist, montiert "Spiegel Online" so, daß der Eindruck entsteht, es handle sich um eine Reaktion auf diese Vorwürfe.

    Freilich - wenn man genau liest, dann hat "Spiegel Online" nichts Falsches geschrieben. Lesen wir den entscheidenden Satz aus dem Artikel noch einmal und lassen wir ihn uns auf der Zunge zergehen: "Die SPD verkauft den Israel- Boykotteur so: Er sei 'dafür bekannt, dass er gern an den aktuellen politischen und kulturellen Debatten teilnimmt', so Naumann in einer Presseerklärung."

    "Verkauft den Israel- Boykotteur" so, steht da. Es steht nicht da, daß das Zitat die Reaktion auf den Vorwurf des Israel- Boykotts ist; daß es überhaupt damit etwas zu tun hat. Es steht nicht da, wann denn Naumann das so formuliert hat oder hat formulieren lassen.

    Man sollte schon genau lesen, was in "Spiegel Online" steht. Und dann noch zur Sicherheit googeln.

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    Ketzereien zum Irak (28): "Ein sicherer und stabiler Staat ist jetzt erreichbar"

    Zu kaum einem internationalen Thema gab es in den vergangenen Jahren in den deutschen Medien eine so einhellige Meinung wie zum Irak- Krieg: Erstens unmoralisch. Zweitens völkerrechtswidrig. Und drittens von vornherein zum Scheitern verurteilt.

    Über den ersten Punkt wird man endlos streiten können, wie über die meisten moralischen Themen. Der zweite betrifft eine Frage, über die sich nicht einmal ausgewiesene Völkerrechtler einig sind; gleichwohl maßt sich jeder Provinz- Redakteur und sogar jeder ARD-Kommentator an, sie beurteilen zu können.

    Die dritte Frage ist anders gelagert: Die Behauptung, dieser Krieg sei von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen, ist spätestens dann widerlegt, wenn sein Erfolg offensichtlich ist. Dieser Zeitpunkt dürfte kurz bevorstehen.

    Die Einhelligkeit, mit der in den deutschen Medien dieser Krieg als unmoralisch, völkerrechtswidrig und zum Scheitern verurteilt dargestellt wurde, verlieh jeder abweichenden Meinung den Charakter der Ketzerei. Deshalb habe ich die Serie, in der ich seit Ende 2006 Nachrichten und Meinungen gesammelt habe, die von dieser quasi- offiziellen Sicht abweichen, "Ketzereien zum Irak" genannt.

    Wenn Ketzer Glück haben, sind sie irgendwann keine mehr. Dieses Glück widerfährt ihnen dann - jedenfalls haben sie dann die größte Chance, daß es ihnen widerfährt -, wenn sie Recht haben. Diejenigen, die nicht an das Klischee vom von vornherein verlorenen, zutiefst ungerechten Krieg gegen Saddam Hussein geglaubt haben, sind im Recht gewesen.



    Dazu hat gestern der hier in ZR schon mehrfach zitierte Pulitzer- Preisträger Charles Krauthammer einen Kommentar in der Washington Post geschrieben, den zu lesen ich dringend empfehle.

    Krauthammer befaßt sich einerseits mit der aktuellen Lage im Irak und andererseits mit den US-Demokraten und deren Kandidaten Obama und Clinton.

    Die Lage im Irak hat sich nicht nur militärisch drastisch verbessert, seit Mitte letzten Jahres der Surge begann. (Man kann das in den "Ketzereien zum Irak" chronologisch nachlesen, wie aus ersten Zeichen der Hoffnung allmählich, Monat für Monat, der inzwischen nicht mehr zu leugnende Erfolg wurde.) Sondern - und darauf geht Krauthammer besonders ein - auch politisch besteht inzwischen begründeter Anlaß zum Optimismus.

    Krauthammer zitiert den Bericht, den Anthony Cordesman, ein langjähriger Skeptiker zum Irak- Krieg, nach einem kürzlichen Besuch vor Ort am 13. Februar geschrieben hat:
    If the U.S. provides sustained support to the Iraqi government -- in security, governance, and development -- there is now a very real chance that Iraq will emerge as a secure and stable state.

    Wenn die USA in ihrer Unterstützung der irakischen Regierung nicht nachlassen - was Sicherheit, was den Regierungsbereich, was die Entwicklung angeht -, dann gibt es jetzt eine sehr reale Chance, daß aus dem Irak ein sicherer und stabiler Staat wird.
    Diese Einschätzung kann sich auf konkrete Fortschritte stützen:

    Das irakische Parlament, schreibt Krauthammer, hat erstens ein Föderalismus- Gesetz verabschiedet, das den Irak zum vielleicht föderalsten Staat in der ganzen arabischen Welt macht. Die mehrheitlich sunnitischen Provinzen werden sich weitgehend selbst regieren können; sie werden gesetzlich geregelte Beziehungen zur Zentralregierung haben. Am ersten Oktober werden Wahlen zu den Provinz- Parlamenten stattfinden.

    Zweitens wurde eine Teilamnestie für Gefangene beschlossen, von denen 80 Prozent Sunniten sind. Drittens hat das irakische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Aufteilung der Gewinne aus der Ölförderung regelt, ein bisher ständiger Streitpunkt zwischen Schiiten, Kurden und Sunniten.



    Good news from Iraq also; endlich gute Nachrichten aus dem Irak.

    Nur - und das ist das zweite Thema von Krauthammers Kommentar - passen sie nicht in das Wahlkampf- Konzept der Demokraten; in das von Clinton so wenig wie in das von Obama. Krauthammer schreibt:
    Despite all the progress, military and political, the Democrats remain unwavering in their commitment to withdrawal on an artificial timetable that inherently jeopardizes our "very real chance that Iraq will emerge as a secure and stable state."

    Why? Imagine the transformative effects in the region, and indeed in the entire Muslim world, of achieving a secure and stable Iraq, friendly to the United States and victorious over al-Qaeda. Are the Democrats so intent on denying George Bush retroactive vindication for a war they insist is his that they would deny their own country a now-achievable victory?

    Trotz allen militärischen und politischen Fortschritts bleiben die Demokraten eisern dabei, sich auf einen Abzug auf der Grundlage eines künstlichen Zeitplans festzulegen, der darauf angelegt ist, unsere "sehr reale Chance, daß aus dem Irak ein sicherer und stabiler Staat wird", zunichte zu machen.

    Warum? Man mache sich klar, welche Umwälzungen in der Region, ja in der gesamten muslimischen Welt die Folge wären, wenn ein sicherer und stabiler Irak ensteht, der mit den USA befreundet ist und der die El Kaida besiegt hat. Sind die Demokraten derart versessen darauf, George Bush die nachträgliche Rechtfertigung eines Kriegs zu verweigern, der nach ihrer Behauptung der seinige ist, daß sie ihrem eigenen Land einen Sieg vorenthalten wollen, der jetzt erreichbar ist?



    Krauthammers Kommentar endet mit dieser Frage. Er gibt keine Antwort.

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    22. Februar 2008

    Zitat des Tages: Rück Blick eines Astronauten

    Dieses Mal war es ganz anders: ich war ein Missionsspezialist, ich war dafür vorgesehen, die Station zusammen zu bauen, Reparaturmaßnahmen durchzuführen.

    Der deutsche Astronaut Hans Schlegel heute laut einem Bericht der FAZ.

    Kommentar: Warum so inkonsequent in der Orthographie? Sähe es nicht so noch viel hübscher aus: "Dieses Mal war es ganz anders: ich war ein Missions Spezialist, ich war dafür vor gesehen, die Station zusammen zu bauen, Reparatur Maßnahmen durch zu führen"?

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    Zettels Meckerecke: Blinde Hessen? Stumme Hessen!

    Wenn jemand, der nicht mit dem politischen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland vertraut ist, die Meldungen von gestern und heute liest, die sich mit der Regierungsbildung in Hessen befassen, dann dürfte der Betreffende vermuten, daß Hessen so etwas wie eine Provinz ist, die von Berlin aus regiert wird. Ein Département, um dessen von der Berliner Regierung einzusetzenden Präfekten es geht.

    Denn die Diskussion wird fast nur von Bundespolitikern geführt.

    In der "Süddeutschen Zeitung" lesen wir zum Beispiel mit Datum von heute 07.51 Uhr:
    Gregor Gysi hat Hessens SPD-Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti die Unterstützung der Linkspartei bei einer Kampfabstimmung zur Ministerpräsidentin zugesagt.

    Der Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag sagte der Frankfurter Rundschau, seine Partei sei in Hessen auch mit dem Ziel angetreten, den derzeitigen Regierungschef Roland Koch abzulösen, "Das geht nur mit der Wahl von Frau Ypsilanti." Deshalb würde seine Fraktion die SPD-Politikerin in jedem Fall geschlossen wählen. Gysi bot der SPD zudem eine künftige Zusammenarbeit in Hessen an.
    Gehört der Genosse Gregor Gysi der Fraktion der Partei "Die Linke" im Hessischen Landtag an? Ist er an führender Position in deren Landesverband tätig?

    Man wird ja noch rhetorisch fragen dürfen.

    Dieweil scheinen die hessischen Kommunisten wie vom Boden verschluckt. Haben Sie irgendwo gehört oder gelesen, daß ihr Vorsitzender Ulrich Wilken sich zu dem aktuellen Thema geäußert hat? Haben Sie eine Stellungnahme des Vorsitzenden der Landtagsfraktion von "Die Linke" gehört, gesehen, gelesen?

    Gestern Nachmittag berichtete für die "Welt" Gisela Kirschstein über die aktuelle Diskussion. Sie zitierte einmal diesen Fraktionsvorsitzenden Willi van Ooyen. Mit einem Interview, das er der FAZ gegeben hatte. Was in diesem Interview stand - man biete der SPD punktuelle Zusammenarbeit bei der Abschaffung der Studiengebühren sowie der Rückkehr Hessens in die Tarifgemeinschaft der Länder an -, war hier in diesem Blog bereits am 13. Februar zu lesen. Da allerdings hatte es die Vizechefin der Fraktion von "Die Linke", Janine Wissler, gerade der "Frankfurter Rundschau" gesagt.



    Die SPD ist da nicht besser als die Kommunisten.

    In der SPD sei, so hieß es gestern in "Spiegel Online", die "Spitze gespalten". Die Spitze der hessischen SPD? I wo. Berichtet wird über Kurt Beck, über Hubertus Heil, über den "Seeheimer Kreis". Und natürlich hat auch der Fraktionsvorsitzende der SPD seine Meinung beigesteuert.

    Nicht der SPD im Wiesbadener Landtag. Sondern Peter Struck, der Vorsitzende im Bundestag: "Es gibt die klare Erklärung von Ypsilanti: Wir wollen nicht auf die Stimmen der Linken angewiesen sein."

    Ja, kann das Frau Ypsilanti denn nicht selbst sagen?

    Daß sie blind seien, hängt man den Hessen traditionell an. Sind sie jetzt auch noch stumm geworden?

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    Marginalie: "Zettels Raum" wird in China blockiert

    Die Diskussion darüber, warum "Zettels Raum" in den Neuen Ländern weniger Leser hat als in Westdeutschland, hat mich veranlaßt, mir überhaupt einmal anzusehen, woher die Leser kommen. Dabei ist mir aufgefallen, daß - in dem Zeitraum, seitdem das aufgezeichnet wird - Besucher aus allen größeren Ländern kamen, aber kein einziger aus China.

    Ich habe daraufhin bei WebSitePulse getestet, ob ZR für China blockiert ist. Ergebnis: Von Shanghai und von Peking aus ist ZR laut Testergebnis nicht erreichbar; von Hongkong aus ist der Blog nicht blockiert.

    Ein interessantes Ergebnis, finde ich. Interessant vielleicht auch für andere Blogger aus der Blogokugelzone, die einmal nachsehen wollen, für wie gefährlich die Chinesen sie halten.



    Ist es die liberale, gegen jeden Totalitarismus gerichtete Haltung, für ZR die hinter die Great Firewall verbannt wurde, hinter das Golden Shield? Vielleicht. Dann müßte es eigentlich auch die anderen größeren Blogs aus der liberalen Blogokugelzone getroffen haben.

    Es könnte aber auch sein, daß es einen spezifischeren Grund gibt: Ich habe hier im Dezember 2006, im Januar 2007 und noch einmal im März 2007 über den Tod des deutschen Studenten Bernhard Wilden in Peking berichtet.

    Sollte das die Ursache für die Blockierung sein, dann wäre das nicht uninteressant im Hinblick darauf, wie die chinesischen Behörden diesen Tod einordnen.

    Damals haben die großen Zeitungen von dem Fall kaum Kenntnis genommen. Jetzt, nach mehr als einem Jahr, hat es doch noch zwei Berichte gegeben; in der "Welt am Sonntag" und in der "Berliner Morgenpost". Diesen beiden Artikel allerdings sind, laut Test, von China aus abrufbar.

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    21. Februar 2008

    Zitate des Tages: "Aktiv" wird die hessische SPD nicht mit den Kommunisten zusammenarbeiten. Sich wählen lassen ist passiv, nicht wahr?

    "Es wird keinerlei Absprachen oder sonstige Vereinbarungen irgendwelcher Art, auch nicht über Tolerierung, mit der Linken geben", sagte der SPD-Chef heute in München beim traditionellen Starkbieranstich auf dem Nockherberg. Es werde auch "keinerlei aktive Zusammenarbeit mit der Linken geben".

    "Spiegel Online" zitiere ich eher selten Hier einmal eine Ausnahme.

    Aus "Zettels Raum" stammte bisher kein "Zitat des Tages"; so selbstreferentiell mag ich's denn doch nicht. Hier einmal zwei Ausnahmen:

    Tritt Andrea Ypsilanti zu dieser Wahl an, dann wird sie gewählt werden. Sie kann das gar nicht verhindern, denn sie kann ja den Kommunisten nicht verbieten, sie zu wählen.

    "Zettels Raum" am 29.1.08.


    Die Kommunisten wollen - es war hier schon vor den Wahlen zu lesen - in irgendeiner Form bei einer Volksfront mitmachen. Wenn nicht als Koalitionspartner, dann als Dulder. Wenn nicht als formale Dulder, dann in der Weise, daß man zunächst einmal Frau Ypsilanti zur Ministerpräsidentin mitwählt. Die Wahl ist ja geheim; wer will wissen, wo die Stimmen herkommen? In diesem Fall würde die rotgrüne Minderheitsregierung, statt sich formal von den Kommunisten dulden zu lassen, sich "von Fall zu Fall" eine Mehrheit suchen.

    "Zettels Raum" am 13.2.08.

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    Marginalie: Kommunisten - find ich gut! Meinen wieviele Deutsche?

    Antwort: Genau ein Drittel; 33 Prozent. Im Westen 28 Prozent. Im Osten 55 Prozent.

    Gut, zugegeben: Wörtlich so gesagt haben sie es nicht. Aber zum Ausdruck gebracht schon, wenn man es sich recht ansieht.

    Allensbach hat gefragt: "Wie bewerten Sie die Erfolge der Linken bei den vergangenen Landtagswahlen?" Vorgegeben waren als Antworten "positiv" und "negativ". Die obigen Zahlen beziehen sich auf die "positiv"- Antworten. Mit "negativ" antworteten im Osten ganze 19 Prozent, im Westen 48 Prozent. Macht von allen Deutschen, die Stichprobe von Allensbach zugrunde gelegt, 42 Prozent.

    Weniger als die Hälfte von allen Befragten bewertet es negativ, daß jetzt die Kommunisten in zwei weitere westdeutsche Parlamente eingezogen sind. Sogar noch nicht einmal die Hälfte der Westdeutschen findet das negativ.



    Erklärungen? Eine triviale Erklärung kann vermutlich ausgeschlossen werden, angesichts der Professionalität der Allensbacher Demoskopen: Daß die Befragten oder ein Teil von ihnen die Frage so verstanden haben, wie ich sie oben zitiert habe und wie sie in der FAZ zu lesen ist: "Wie bewerten Sie die Erfolge der Linken ...?" Und nicht: "Wie bewerten sie die Erfolge der Partei "Die Linke" ...?"

    "Erfolge der Linken", das könnte sich ja durchaus auf die gesamte Linke beziehen - die SPD, die Grünen und auch die Kommunisten. Da aber die Allensbacher Demoskopen Fachleute sind, kann man davon ausgehen, daß die Interviewer zuvor erläutert hatten, daß es um die Partei gehen würde und nicht um die politische Richtung generell.

    Nur, welche Partei? Es ist schon bemerkenswert, wie allein eine wiederholte Namensänderung aus der SED, deren Erfolg gewiß nicht 28 Prozent der Westdeutschen begrüßt hätten, eine Partei hervorgezaubert hat, die offenbar von einer Mehrheit nicht mehr als kommunistisch wahrgenommen wird.

    Daß diese Partei außerhalb Deutschlands nach wie vor als eine Bruderpartei unter kommunistischen Bruderparteien auftritt - wer weiß das schon? Die Kommunisten selbst hängen es nicht an die große Glocke, zurückhaltend formuliert. Und unsere Medien, die sonst so gern das aufdecken, was die Parteien nicht so gern laut sagen, scheinen in diesem Punkt wenig investigative Neigungen zu entwickeln.



    Aus dem Artikel der Allensbach- Chefin Renate Köcher, aus dem diese Daten stammen, geht etwas hervor, was alle aufschrecken sollte, die politisch interessiert und keine Kommunisten sind:

    Es ist den Kommunisten offenbar fast perfekt gelungen, sich als eine sozialdemokratische Partei darzustellen.

    Vor allem bei ihren Anhängern ist das so. Diese, schreibt Köcher, sehen
    ihre Partei vor allem als Anwalt sozialer Gerechtigkeit, der kleinen Leute und Benachteiligten und als Bastion gegen weitere Korrekturen am Sozialstaat. 88 Prozent der eigenen Anhänger schreiben der Linkspartei zu, dass sie sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt, 85 Prozent sehen sie als Stütze der kleinen Leute, 77 Prozent als Anwalt der Benachteiligten in der Gesellschaft. 64 Prozent erhoffen sich von der Linkspartei, dass sie den Sozialstaat verteidigt.
    Durchweg Positionen, die man auch von einer sozialdemokratischen Partei erwartet.

    Die Kommunisten spielen virtuos auf der Klaviatur ihrer klassischen Agitprop. Die Massenlinie stellt "Die Linke" als eine sozialdemokratische, reformerische Partei dar. Die Kaderlinie wird parteintern vertreten und nach außen dort, wo es die hiesige Bevölkerung nicht mitbekommt; also in den Beziehungen mit den Bruderparteien.

    Bis 1990 hatte die DKP exakt dieselbe Doppelstrategie versucht, aber mit geringem Erfolg. Denn wie die Partei ihr "Eintreten für den kleinen Mann" in die Tat umsetzt, wenn sie die Macht dazu hat, das konnte ja jeder an den Verhältnissen in der DDR ablesen. Daß die Kommunisten in der Bundesrepublik, anders als zum Beispiel in Frankreich und Italien, nie eine Rolle spielten, lag an diesem Anschauungs- Unterricht, den ein Blick auf und über die Zonengrenze gab.

    Jetzt fehlt diese Anschauung. Jetzt fehlt die Wirklichkeit, die die Propaganda Lügen straft. Und für viele, die in der DDR noch den real existierenden Sozialismus erlebt haben, scheint dieser sich umso mehr zu verklären, je mehr er im Dunkel der Geschichte verschwindet.

    Mit Dank an Werner Stenzig. - Für Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.

    20. Februar 2008

    Jetzt streiken sie wieder. Muß das eigentlich sein?

    In Deutschland gibt es eine Gewerkschaft, hervorgegangen aus der ÖTV und anderen Gewerkschaften, die den Namen "Vereinte Dienstleistungs- Gewerkschaft" trägt. Sie hat die Abkürzung ver.di gewählt, gesprochen "ferdi".

    Nein, vielmehr müßte diese Abkürzung so ausgesprochen werden. Aber seltsamerweise wird sie, jedenfalls von den Nachrichten- Sprechern, "werdi" ausgesprochen. So, als laute der abgekürzte Name "Wereinte Dienstleistungs- Gewerkschaft".

    Offenbar ist man in dieser Gewerkschaft - oder bei den Nachrichten- Sprechern - derart gebildet, daß die Abkürzung unweigerlich den Namen eines Komponisten hervorruft, den man, falls man des Italienischen mächtig ist, so ähnlich wie "werdi" aussprechen kann.



    Aber ich schweife ab, bevor ich überhaupt zu meinem Thema gekommen bin. Oder vielleicht doch nicht. Denn das Thema ist strike.

    Auch so ein Fremdwort, das wir allerdings, in seiner ins Deutsche übernommenen Version, nicht "s-traik" aussprechen, sondern "schtraik". Auch schreiben wir es nicht mehr strike, sondern Streik. Aus dem Fremdwort ist also ein Lehnwort geworden.

    "To strike" heißt schlagen, hauen, zuschlagen; dergleichen. Aber nicht wegen dieser gängigen Bedeutung des Worts nannte man im Englischen im 19. Jahrhundert eine Arbeitsniederlegung strike, sondern aufgrund einer Spezialbedeutung des Worts: Es bedeutet auch - man kann das sehr schön bei dem britisch- australischen Historiker Tony Taylor nachlesen - das Einholen, das Reffen der Segel auf einem Schiff. Also die Segel "streichen", wie wir mit einem etymologisch verwandten Wort im Deutschen sagen.

    Das Streichen der Segel - das war das Ereignis, das dem strike seinen Namen gegeben hatte. Es trug sich in London zu, im Jahr 1768, und war ein Kulminationspunkt der sozialen Auseinandersetzungen, die es in den Jahrzehnten zuvor gegeben hatte. Eine ihrer Ursachen war der Niedergang der irischen Landwirtschaft gewesen, als deren Folge arbeitslos gewordene Landarbeiter Jobs als Seeleute gesucht hatten.

    In Irland hatte sich vor allem eine radikale Organisation hervorgetan, die den Spitznamen "Whiteboys" trug, weil ihre Mitglieder, in weiße Gewänder gehüllt, wie sie später der Ku-Klux-Klan in den USA schätzte, nächtlings Gutsbesitzer zu meucheln pflegten.

    Aus diesen Aufrührern wurden, als sie aus Irland in die englischen Hafenstädte strömten, nicht minder aufrührerische Seeleute. Und diese veranstalteten 1768 in London den ersten strike, indem sie die Segel von Schiffen refften, die dadurch am Auslaufen gehindert wurden. Der unmittelbare Anlaß war die Inhaftierung eines radikalen Journalisten und Abgeordneten, John Wilkes, gewesen, dessen Freilassung die "Streikenden" forderten.



    Das Wort "Streiken" hat von damals bis heutzutage einen bemerkenswerten Bedeutungs- Wandel erfahren. Heute verwenden wir diesen Begriff, substantivisch und als Verb, nicht nur in Bezug auf Arbeitskämpfe. Auch der Motor eines Autos kann "streiken", der Kugelschreiber kann es, wenn er keinen Strich mehr hervorquellen läßt. Es gibt den "Hungerstreik", den "Käuferstreik"; ja man hat schon von einem "Gebärstreik" gehört.

    Aber die Kernbedeutung des Begriffs ist doch auch heute noch die Verweigerung einer Arbeitsleistung, wie bei den Matrosen in London anno 1768. Einen bizarren Streik haben wir gerade in Gestalt des Streiks der in der GDL organisierten Lokomotivführer - nein, nicht hinter uns, sondern nur erlebt. Die nächste Runde; ein weiteres Kapitel dieser Never Ending Story könnte bevorstehen.

    Und allmählich zeichnet sich ein neuer Streik ab, der uns viel Ärger machen könnte: Der im Öffentlichen Dienst; der Streik eben jener ver.di. Zur Einstimmung der Mitmachenden sowie des Publikums finden, so hat es sich eingebürgert, derzeit sogenannte Warnstreiks statt.

    Wie es weitergehen wird, das kennt man ungefähr so gut, wie Kinder das Märchen kennen, das der Vater ihnen zum siebenundzwanzigsten Mal vorliest:

    Es wird Märsche von Menschen geben, die Trillerpfeifen betätigen, die sich an offenen Feuern erwärmen, die Parolen rufen, in denen sich gern "Hohn" auf "Lohn" reimt. Man wird "Streikposten" sehen, die Plakate vor der Brust und auf dem Rücken hängen haben. Kurz, es wird sich etwas abspielen, das wie eine rührende Retro- Veranstaltung wirkt. Irgendwie an die Alemannische Fassenacht erinnernd, oder an die Echternacher Springprozession.



    Ist es wirklich erforderlich, im 21. Jahrhundert Lohnverhandlungen von solchen folkloristischen Spektakeln begleiten zu lassen?

    Von Sonderwünschen spezifischer Gruppen (wie der Lokomotivführer der GDL) abgesehen, die versuchen, ihren Platz im Lohngefüge zu verschieben, bewegt sich dieses Lohngefüge doch, ähnlich wie ein Geleitzug, mit ungefähr gleicher Geschwindigkeit. Die Größenordnung der Lohnsteigerungen, die, gegeben die wirtschaftliche Lage, "drin" sind, steht im Vorhinein fest. Experten sagen sie für dieses Jahr mit etwas über drei Prozent vorher.

    Da die Gewerkschaften zeigen müssen, daß sie für ihre Mitglieder kämpfen, werden die tatsächlichen Lohnsteigerungen ein Stück höher ausfallen. Natürlich ist das von Branche zu Branche verschieden, je nach deren momentaner Leistungskraft. Aber bei drei, vielleicht vier Prozent werden die Lohnsteigerungen 2008 liegen. In sehr gut verdienenden Branchen vielleicht bis zu fünf Prozent.



    Warum also das ganze Theater? Warum die "Warnstreiks", die Klassenkampf- Rhetorik, die Streiks, die es vielleicht wirklich gibt, ohne daß sie am Ergebnis Wesentliches ändern werden? Streiks des Öffentlichen Dienstes, die dem Arbeitgeber überhaupt nicht schaden werden, sondern nur uns, den Bürgern, die wir auf Dienstleistungen des Staats, der Kommunen, ihrer Betriebe angewiesen sind?

    Warum können sich Unternehmens- Verbände und Gewerkschaften nicht zusammensetzen, ihre jeweiligen Experten hinzuziehen und dann so verhandeln wie, sagen wir, ein Fabrikant und ein potentieller Abnehmer seines Produkts miteinander verhandeln?

    Natürlich wird da gepokert. Natürlich versucht der Fabrikant einen möglichst hohen und sein möglicher Kunde einen möglichst niedrigen Preis zu erzielen. Aber dazu wird doch kein öffentliches Tamtam veranstaltet. Welcher Preis herauskommt, darüber entscheidet letztlich, wieviel es dem Fabrikanten wert ist, seine Ware an diesen Kunden zu verkaufen, und wieviel es dem Kunden wert ist, diese Ware von diesem Hersteller zu erwerben.

    Um nicht mißverstanden zu werden: Selbstverständlich muß es ein Streikrecht geben. Zu streiken ist die Ultima Ratio für Arbeitnehmer, so wie es für Arbeitgeber die Ultima Ratio ist, als Folge zu hoher Lohnabschlüsse Stellen abzubauen.

    Das eine wie das andere sollte, wenn man sich auf beiden Seiten vernünftig verhält, vermieden werden können. Und gar keinen Grund gibt es für das Kasperl- Theater der "Warnstreiks", bevor man überhaupt zu Ende verhandelt hat.

    Es ist aus Sicht der Arbeitgeber unvernünftig, den Arbeitnehmern so wenig entgegenzukommen, daß diese zur Ultima Ratio des Streiks greifen. Es ist aus Sicht der Arbeitnehmer ebenso unvernünftig, mittels Streiks so hohe Abschlüsse erzwingen zu wollen, daß Entlassungen die Folge sind.

    Wenn man sich verhält wie erwachsene Menschen und nicht wie Matrosen aus dem 18. Jahrhundert, wie Revoluzzer aus dem 19. Jahrhundert oder wie System- Veränderer aus dem 20. Jahrhundert - wenn man also auch bei den Gewerkschaften in der Gegenwart angekommen ist und mit dem Partner hart, aber rational verhandelt, dann müßte dieses Spektakel der Streiks eigentlich ein seltener Ausnahmefall werden.



    Nur gibt es freilich für Streiks ein sehr starkes Argument, aus Sicht der Gewerkschaften: Der Streik ist die Gelegenheit für sie, sichtbar zu werden. Mit ihm erweisen sie ihre Existenzberechtigung. Er liefert ihnen Medienpräsenz, führt ihnen neue Mitglieder zu. Er ist ihre große Stunde. Die Stunde, die sie - wie die zuvor fast unbekannte GDL - ins öffentliche Bewußtsein rückt.

    Ich fürchte, sie werden sich das nicht nehmen lassen. So wenig, wie man den Gestüten ihre Hengstparade nehmen kann, den Fliegern ihre Flugshow oder den Soldaten die Tattoos und den Großen Zapfenstreich. So wenig, wie den Alemannen ihre Fassenacht.

    Titelvignette: Streik von Textilarbeitern in Chicago 1915. In der Public Domain, da die Rechte im Besitz der Library of Congress sind. Kommentare und Diskussionen zu diesem Beitrag ist in "Zettels kleinem Zimmer" ein Thread eingerichtet. Wie man sich dort registriert, ist hier zu lesen. Registrierte Teilnehmer können Beiträge schreiben, die sofort automatisch freigeschaltet werden.