31. Dezember 2007

Zettels lobender Jahresrückblick (4): Präsident Bush, Staatsmann des Jahres

In der heutigen SZ ist im Vorspann eines Artikels über den Wahlkampf zu den US-Wahlen Ende 2008 dieser erstaunliche Satz zu lesen: "Nachdem der Irak aus den Schlagzeilen verschwunden ist, stehen die Kandidaten um die Nachfolge von Präsident George W. Bush in einem harten Wettbewerb der Themen."

Ja, wie kommt es denn, daß "der Irak aus den Schlagzeilen verschwunden" ist?

Haben die USA, wie es führende US-Demokraten Ende 2005 forderten, ihre Truppen bis Mitte 2006 aus dem Irak abgezogen? Hat die US-Regierung, wie es die Demokratische Partei im Frühjahr 2007 forderte, verkündet, daß sie bis zum August 2008 alle Truppen aus dem Irak abziehen werde? Haben die USA, wie es damals führende US- Demokraten verlangten, ihre Truppen bereits bis Ende 2007 aus dem Irak abgezogen?

Hätten diese Demokraten die Macht gehabt, ihre Forderungen durchzusetzen, dann allerdings wäre der Irak heute in den Schlagzeilen; mehr denn je.

Dann würden die El Kaida und andere extremistische Sunniten die Provinzen Anbar, Saladin und Diyala kontrollieren; sie hatten ja in Anbar schon ihre Republik ausgerufen. Dann würde in Bagdad der nackte Bürgerkrieg toben; im Süden würden - wären die Briten dem US-Beispiel gefolgt - die schiitischen Milizen herrschen.

Dann gäbe es eine riesige Flüchtlingswelle aus dem Irak; Hunderttausende von demokratisch gesonnen Irakern, die mit den USA zusammengearbeitet hatten, würden verzweifelt versuchen, ihr Leben zu retten, so wie einst die Boat People, nachdem die USA - auch damals auf Beschluß eines von den Demokraten kontrollierten Kongresses - ihren Verbündeten Südvietnam im Stich gelassen hatten.

Dann wäre jetzt der ganze Nahe Osten in Aufruhr, denn ein im Bürgerkrieg befindlicher Irak hätte natürlich den Iran, Syrien, Saudi- Arabien auf den Plan gerufen. Dann wäre die Situation Israels so prekär wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Dann wäre die El Kaida jetzt dabei, in den von ihr beherrschten irakischen Provinzen die Ausbildungslager zur Vorbereitung neuer Anschläge à la 9/11 einzurichten.

Daß dieses Szenario nicht eingetreten ist, haben die Iraker, hat die Welt einem einzigen Mann zu danken, dem amerikanischen Präsidenten. Er hat in der Zeit, in der die Lage im Irak immer schwieriger wurde - zwischen dem Anschlag auf die Al- Askari- Moschee in Samarra im Februar 2006 und den ersten Erfolgen des Surge in Anbar im Juni dieses Jahres - Kurs gehalten. Er hat mit einer bewundernswerten Charakterstärke den immensen Pressionen, denen er damals ausgesetzt war, widerstanden.

Als die Lage im Irak aussichtslos zu werden drohte, als eine große Mehrheit der US-Bürger den sofortigen Abzug forderte, als Bushs Popularität auf einen historischen Tiefstand gesunken war, da hat er das genaue Gegenteil von dem entschieden, was man von ihm erwartete: Er hat die Truppen im Irak verstärkt. Er hat einen neuen Oberbefehlshaber ernannt, den General Petraeus, und er hat ihm freie Hand gegeben, eine neue Strategie zu riskieren. Er hat damit die Wende eingeleitet, die dazu führte, daß jetzt "der Irak aus den Schlagzeilen verschwunden" ist.



Es hat in den vergangenen Jahrzehnten vermutlich keinen Staatsmann gegeben, dessen Image so massiv von seiner historischen Leistung abwich, wie das bei Präsident George W. Bush der Fall ist.

Auf die Gründe für Bushs miserables Image will ich hier nicht eingehen. Es dürfte sehr viel zusammenkommen.

Bushs konservative Überzeugungen, sein christlicher Glaube. Sein hemdsärmliges Auftreten. Innenpolitisch seine Führungsrolle auf der rechten Seite einer Gesellschaft, in der das traditionelle WASP- Amerika der "roten Staaten" mit dem multikulturellen Amerika der "blauen Staaten" an der Ost- und der Westküste ringt.

Außenpolitisch seine entschlossene Reaktion auf den Angriff am 11. September 2001. Sodann die direkte, undiplomatische Art, in der er die amerikanischen Hegemonial- Interessen vertritt (seine Vorgänger haben sie ebenso vertreten, aber in Watte verpackt). Und natürlich der Irak-Krieg.

Ob es eine weise Entscheidung gewesen war, dem ständigen und unbelehrbaren Störenfried des Nahen Ostens, der zweimal einen Krieg vom Zaun gebrochen hatte und der im Inneren mit barbarischer Brutalität herrschte, mit Waffengewalt entgegenzutreten, das mögen spätere Historiker entscheiden. Vermutlich werden sie sich nicht einig sein.

Ebenso wird es die Sache künftiger Historiker sein, anhand des dann verfügbaren Archiv- Materials die diplomatische Vorgeschichte dieses Kriegs zu klären - die Rolle Frankreichs zum Beispiel, das Verhalten des deutschen Kanzlers, die Rolle, die im Hintergrund Rußland und China spielten. Klarheit zu schaffen über die Konsultationen im Sommer 2002, über die Hintergründe der erfolgreichen und der gescheiterten Resolutionen im Weltsicherheitsrat.

Diese Historiker werden herauszufinden haben, wie es zu den fehlerhaften Geheimdienst- Berichten kommen konnte, die nicht nur Bush, sondern beispielsweise auch den französischen Präsidenten Chirac zu der Überzeugung brachten, daß Saddam Hussein über Massenvernichtungs- Waffen verfügte. Sie werden - hoffentlich - ein klärendes Wort zu den Vorwürfen sagen können, Bush habe gewußt, daß Saddam gar keine MWDs hatte, habe die Öffentlichkeit aber belogen.



Erst zukünftige Historiker werden das alles beurteilen können. Was man aber jetzt, am Ende des für das Schicksal des Irak entscheidenden Jahres 2007, sagen kann, ist dies: Ohne die Standfestigkeit des Präsidenten George W. Bush wäre die Lage des Irak, wären die Verhältnisse im Nahen Osten, wäre die gesamte weltpolitische Situation erheblich schlechter, als sie es ist.

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Zitat des Tages: Eine hoffnungsvolle Prognose zum Jahresausklang? Ach nein ...

Am Ende bliebe ein Staat übrig, der das Land bloß noch verwaltet. Das Gestalten überließe er anderen.

Frank Dohmen und Alexander Jung von der Wirtschafts- Redaktion des "Spiegel". Die Autoren scheinen das aber nicht als eine positive Prognose zu sehen, sondern als eine Art Horror- Szenario. In einem Artikel von seltsamer Unlogik.

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Marginalie: Der Protest der Aleviten und der Niedergang des deutschen TV-Krimis

Eigentlich sehe ich gern TV-Krimis. So, wie ich auch gern Kriminalromane lese. Freilich bin ich da altmodisch. Ich kann keinen Fortschritt des Genres erkennen.

Ich habe nicht den Eindruck, daß Conan Doyle und Ellery Queen, daß Agatha Christie durch heutige Kriminal- Geschichten übertroffen würden, was die Kunst des Plots angeht, das Entwickeln einer überraschenden Lösung aus Clues heraus, die sorgsam ausgebreitet werden, sozusagen entlang des Wegs versteckt, den der Leser geführt wird. Da sind die Altmeister unübertroffen.

Wegen derselben Qualitäten schätze ich von TV-Krimis besonders die "Kommissar"- Serie von Herbert Reinecker, deren Geschichten fast immer glänzend konstruiert waren.



Reinecker hatte auch den Ehrgeiz, die Verhältnisse seiner Zeit zu zeigen und eine psychologisch glaubwürdige Geschichte zu erzählen. Wer wissen will, wie es in den siebziger Jahren in Deutschland zuging, der sollte sich "Kommissar"- Krimis ansehen. (Falls sie denn wieder einmal wiederholt werden; eine DVD-Ausgabe gibt es immer noch nicht).

Aber in diesen klassischen Krimis, den gedruckten wie den gefilmten, waren Zeitkolorit und Psychologie doch nur sekundär. Butter bei die Fische, die Ausstaffierung des Handlungsgerüsts. Zutaten, aber nicht das Eigentliche. Das Eigentliche war selbstverständlich die spannende Kriminalhandlung.

Bei vielen heutigen TV-Krimis scheint sich dieses Verhältnis umgekehrt zu haben. Nicht mehr das Menü ist das Wichtige, sondern die Tischdekoration.

Die Filmemacher haben ein Anliegen, eine Botschaft, wenn nicht gar ideologische Ziele. Die wollen sie unter die Leute bringen. Und als Köder verpacken sie sie in eine Kriminalgeschichte.

Zum ersten Mal ist mir das aufgefallen, als ich gemerkt habe, daß es eine neue Gattung gibt, den "Umweltkrimi". Manchmal noch mit der klassischen Leiche; aber das wahre Opfer ist in diesen meist öden Filmen natürlich immer die arme Umwelt. Ersatzweise Kinder, die vergiftet werden, weil jemand irgend etwas Schädliches in die Luft pustet, in den Fluß kippt oder den ahnungslosen Eltern verkauft.

Auch wenn es nicht um die Umwelt geht, sind die Täter in der Regel Leute aus dem Milieu des Klassenfeindes, sind "die Mörder dort zu finden, wo sie am seltensten vorkommen, bei den Unternehmern, deren Gattinnen oder zumindest den mißratenen Söhnen, dem reichen Bauer oder bei den tumben Skinheads", wie es C. im "Kleinen Zimmer" trefflich formuliert hat.



Wo kann man diese Instrumentalisierung, diese feindliche Übernahme des Krimis am ausgeprägtesten finden? Natürlich im öffentlich- rechtlichen Fernsehen.

Erstens, weil sich dort die 68er, inzwischen immer mehr ihre ideologischen Kinder und Enkel, tummeln. Zweitens, weil dort gute Quoten zwar auch gern gesehen, aber nicht so lebenswichtig sind wie bei den Privaten.

Damit bin ich beim Anlaß zu dieser Marginalie. Bei einem Thema, das ich vorgestern schon aus anderer Sicht kommentiert habe. Damals war es noch ein Randthema. Inzwischen hat es, dank der gestrigen Demonstration von Aleviten in Köln, die Titelseiten erreicht.

Die Regisseurin Angelina Maccarone, deren Interview mit der SZ ich bereits für den vorausgehenden Artikel verwendet hatte, hat sich jetzt noch einmal gegenüber der FAZ erklärt. Und was sie da sagt, scheint mir nicht nur für die Aleviten- Affäre von Interesse zu sein, sondern eben auch bezeichnend für den Niedergang des deutschen TV-Krimis.

Ich zitiere jetzt Frau Maccarone, weil dies nun einmal das aktuelle Beispiel ist; das soll keineswegs heißen, daß ihr etwas vorzuwerfen sei, was nicht ebenso vielen ihrer Kollegen und Kolleginnen vorgehalten werden kann.

Der Interviewer, Michael Hanfeld, fragt: "Wie haben Sie diese Geschichte entwickelt?" Angelina Maccarone gibt eine längere Antwort, aus der die folgenden Sätze stammen:
Ich wollte die Klischees vermeiden, die häufig eine Rolle spielen, wenn es um das Thema "Ehrenmord" geht. (...) Ich hatte mir vorgenommen, mit dem Klischee zu brechen, dass die türkischen Migranten in Deutschland eine einzige, homogene Gruppe seien, und wollte stattdessen aufzeigen, dass es verschiedene türkische Gruppierungen gibt und darin wiederum Individuen, die nicht unbedingt den Erwartungen der eigenen Gruppierung oder Familie entsprechen. (...) Ich wollte nichts simplifizieren, sondern die Vielschichtigkeit türkischen Lebens in Deutschland zeigen. Dabei geht es mir ganz besonders um die einzelnen Menschen als Individuen.
Und nachdem sie das dargelegt hat - man könnte sagen, das Exposé für eine Dokumentation über Türken in Deutschland oder für ein Doku- Drama - fällt Frau Maccarone noch ein Satz ein, mit dem sie diese Antwort beendet: "Mir ging es bei der Kriminalgeschichte natürlich auch darum, erst einmal ein paar falsche Fährten zu legen".

Natürlich. Natürlich auch. Es sollte ja ein "Tatort" gedreht werden. Irgendwie konnte man da letzten Endes auch nicht ganz auf die Dramaturgie eines Krimis verzichten. Aber ihre Aufgabe hat Frau Maccarone, die auch das Drehbuch schrieb, ganz offensichtlich nicht darin gesehen, eine spannende, raffinierte Krimi- Handlung zu erdenken.



Frau Maccarone ist bisher - ich habe das schon beschrieben und möchte insbesondere auf Maccarones Interview mit After Ellen aufmerksam machen - als Autorin von Filmen über Einwanderer- Schicksale, über Frauenthemen hervorgetreten. Sie hat für diese Arbeiten etliche Preise erhalten. Sie ist offenbar eine gute Regisseurin. Nur, eine Krimi- Regisseurin ist sie nicht.

Sie ist es, so scheint mir, auch durch "Tatort: Wem Ehre gebührt" nicht geworden.

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30. Dezember 2007

Zitat des Tages: Der Bundespräsident über Staat und Eigenverantwortung

Die Frage, wie viel Staat brauchen und wollen wir wirklich, ist in Deutschland noch nicht substantiell diskutiert worden. Diese Diskussion brauchen wir aber, wenn wir die Herausforderung der Globalisierung bestehen wollen. Ich glaube, wir machen einen grundlegenden Fehler, wenn wir die Eigenverantwortung der Menschen zu gering schätzen und auch ihren Willen und ihre Fähigkeit, Probleme selbst zu lösen.

Bundespräsident Köhler in einem Gespräch, das Berthold Kohler und Günter Bannas für die FAZ mit ihm führten.

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Zettels lobender Jahresrückblick (3): Die Nichtbegnadigung Christian Klars - eine richtige, eine wichtige Entscheidung

Formal ging es um einen Routine- Vorgang. Ein Lebenslänglicher reicht ein Gnadengesuch ein. Der Bundespräsident prüft es und entscheidet. Es ist eine Entscheidung nach Kriterien der Gnadenwürdigkeit, wie sie von früheren Präsidenten in ihrer Entscheidungs- Praxis entwickelt wurden. Unter anderem, daß jemand nicht gnadenwürdig ist, wenn er seine Taten erkennbar nicht bereut.

So weit war eigentlich alles einfach. Derjenige, der das Gnadengesuch gestellt hatte, zeigte keine Reue. Er hatte in einem zurückliegenden Gespräch mit Günter Gaus auf eine Frage nach seiner Schuld mit Unverständnis reagiert. Und er hatte in der Zeit, in der die Entscheidung über das Gnadengesuch anstand, eine Grußadresse an eine damals in Berlin tagende kommunistische Konferenz gerichtet. Darin fordert er, daß "die in Europa ökonomisch gerade abstürzenden großen Gesellschaftsbereiche den chauvinistischen 'Rettern' entrissen werden. Sonst wird es nicht möglich sein, die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden (...)".

Wer das zur Kenntnis nahm, der konnte damals - im Januar und Februar des Jahres - zu dem Schluß kommen, daß dieser Mörder seine Morde nicht nur nicht bereute, sondern daß er sie durch die poiitischen Ziele rechtfertigen wollte, die er und seine Genossen damit verfolgten.

Spätestens bei dem Gespräch, zu dem Präsident Köhler den Häftling Klar unmittelbar vor der Entscheidung in der JVA Bruchsal aufsuchte, muß auch Köhler zu dieser Überzeugung gekommen sein.

Klar hat kürzlich, in einem Interview mit der Wochenzeitung "Freitag", über dieses Gespräch berichtet:
Schließlich kam Köhler mit seiner Mission (...) Unsere Generation hätte der Vätergeneration doch immer vorgeworfen, ihre Verbrechen in der Nazi-Zeit immer beschwiegen zu haben, jetzt würden wir doch das gleiche machen. Ich habe diesem Vergleich widersprochen und ihm erklärt, dass ich nicht einverstanden bin, die RAF-Geschichte als Kriminalfall zu besprechen.
Deutlicher ging es kaum noch. Daß Köhler einen Mörder, der so zu seinen Taten steht, wie Klar das ganz unverhohlen sagte, nicht begnadigen konnte, liegt auf der Hand.



Dennoch hatte es über die Frage der Begnadigung eine heftige öffentliche Diskussion gegeben. Wer sich an sie erinnern möchte, den lade ich ein, die Beiträge nachzulesen, die ich damals zu diesem Thema geschrieben habe. Man findet sie am Ende dieses Artikels verlinkt.

Es war in dieser öffentlichen Diskussion viel von Verirrungen, ja von wirren Ideen die Rede; es war von Schuld die Rede und davon, ob man es Christian Klar zumuten könne, seine Schuld einzugestehen und damit einen großen Teil seines Lebens als einen fürchterlichen Irrtum anzuerkennen.

Ich habe das damals nicht so gesehen, und an meiner Beurteilung hat sich seither nichts geändert: Christian Klar hat in seinem Selbstverständnis als Kommunist gegen unseren Staat, unsere Gesellschaft, unsere Rechtsordnung gekämpft; und er tut es heute noch. Er wird es weiter tun, sobald er aus der Haft entlassen ist. Warum sollte ein Kommunist für das, was er im politischen Kampf tut, Schuld empfinden?

Die Bedingungen haben sich aus seiner Sicht geändert; insofern steht der "bewaffnete Kampf" heute nicht auf der Tagesordnung. Aber daß er Schuld auf sich geladen hat, als er Menschen tötete, dieser Gedanke liegt ihm fern. Er hat aus seiner Perspektive das getan, was die Pflicht des Revolutionärs ist: Die Revolution zu machen. So sieht man das als Kommunist.

Auch in diesem Punkt ist Klar jetzt, in dem Gespräch mit "Freitag", vollständig deutlich geworden. Dazu, warum "die RAF ins Leben gerufen worden" sei, sagte er:
Der authentische Grund ist der gewesen, (...) dass sich geschichtlich eine Möglichkeit gezeigt hat, revolutionäre Entwicklungen in Gang zu setzen. (...) Es ist einzig eine Betrachtungsweise aus der Perspektive einer Befreiung der besitzlosen Klassen. (...) Es ... gehört ...zum Bild, Kampfformen zu wählen, die eigentlich Kampfformen einer Minderheit sind. Eine politische Bewegung will was erreichen, will nicht nur protestieren und sozusagen die Macht anderen überlassen.
Das sagte Christian Klar vor einigen Tagen, publiziert vor einer Woche, in der Ausgabe des "Freitag" vom 21. Dezember 2007. Jeder Marxist- Leninist hätte es so oder ähnlich gesagt.



Im Rückblick kann man sich darüber verwundern, daß Anfang des Jahres die Frage, ob man jemanden begnadigen kann, der so denkt, überhaupt diskutiert wurde. Und man fragt sich, wie Christian Klar auf den Gedanken kommen konnte, er könne mit dieser Haltung zu seinen Taten begnadigt werden.

Was diese zweite Frage angeht, gibt Klar in dem Interview mit "Freitag" eine Auskunft: Günter Gaus habe ihn nach dem Interview nochmals aufgesucht und "die Idee gebracht, das Gnadengesuch zu stellen". Aber "trotz dieser kompetenten Fürsprache" sei "die Sache sehr schnell schwierig, zäh geworden". Offenbar glaubte Klar, Günter Gaus könne die Entscheidung des Bundespräsidenten maßgeblich beeinflussen. Dieser allerdings war damals Johannes Rau.

Was die damalige öffentliche Diskussion angeht, so ist inzwischen erkennbar, daß sie sich keineswegs nur aus dem Interesse der liberalen Öffentlichkeit, ihrer 68er Repräsentanten zumal, an Fragen der Aufarbeitung der siebziger Jahre, an Fragen von Schuld und Reue speiste. Sondern auch die Kommunisten selbst haben da kräftig mitgemischt.

Die "Rosa- Luxemburg- Konferenz", an die Klar seine "Grußbotschaft" richtete, hatte Mitte Januar stattgefunden; die Sache wurde aber erst im Februar einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Mai kam heraus, daß Klar diesen Text nicht aus eigener Initiative geschrieben hatte, sondern daß er dazu eingeladen worden war. Und zwar eingeladen auf Initiative jenes Heinrich Fink, der laut MfS- Dokumenten als IM jahrzehntelang aus der evangelischen Kirche an das MfS berichtet hatte.

Die Kommunisten meiden also heutzutage nicht nur nicht die Verbindung mit "Revolutionären" wie Klar, sondern sie suchen sie ganz offensichtlich. Welche Bedeutung sie Christian Klar beimessen, geht aus der "Dossier" genannten Zusammenstellung von Beiträgen zu Klar hervor, die die kommunistische "Junge Welt" ihren Lesern anbietet - rund dreißig Artikel allein im Jahr 2007!



Eine Begnadigung von Christian Klar trotz dessen Weigerung, seine Mordtaten als solche zu akzeptieren und seine Schuld einzugestehen, wäre ein nicht unerheblicher Propaganda- Erfolg gewesen.

Denn damit wäre ja nachträglich durch keinen Geringeren als den Bundespräsidenten das bestätigt worden, versehen mit amtlichem Brief und Siegel, was die RAF und ihre Sympathisanten immer behauptet hatten: Daß die Angehörigen der RAF, die Menschen töteten, nicht an den Maßstäben für gewöhnliche Mörder zu messen seien.

Eine solche Begnadigung hätte so verstanden werden können - und wäre von der kommunistischen Progaganda sicher so interpretiert worden -, daß der Staat jetzt eine Art Amnestie erläßt, daß er Frieden mit denen machen möchte, die damals zu "Mitteln des politischen Kampfs" griffen, die gegenwärtig nicht zeitgemäß sind.

Die Entscheidung Horst Köhlers hat das verhindert. Sie hat zum Ausdruck gebracht, daß in unserem demokratischen Rechtsstaat Politik und Verbrechen nichts miteinander zu tun haben, schon gar nicht der Mord als ein Mittel der Politik als weniger abscheulich gelten kann als ein Mord aus irgendeinem anderen Motiv. Deshalb war es nicht nur eine offensichtlich richtige, sondern auch eine für unser Land wichtige Entscheidung.

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29. Dezember 2007

Randbemerkung: Muß Roland Koch "zittern"?

Wenn wir "Spiegel Online" Glauben schenken wollen, dann muß Roland Koch um sein "Regierungsamt zittern". Nicht ganz so bildhaft schreibt heute auch FAZ.Net, er müsse um die "Macht fürchten".

Die Grundlage für diese düsteren Prognosen ist eine Umfrage des Düsseldorfer Instituts "Advanced Market Research", die unter 1000 Befragten in Hessen folgende Verteilung der Antworten auf die Sonntagsfrage ermittelt hat: CDU 40 Prozent, FDP 9 Prozent. SPD 33 Prozent, Grüne 10 Prozent.

Nanu, wieso muß da Koch "zittern" und um seine Macht "fürchten"? Nach Adam Riese liegt bei dieser Umfrage Schwarzgelb mit zusammen 49 Prozent weit vor Rotgrün mit zusammen 43 Prozent. Eine komfortable Mehrheit ist Koch, so sollte man meinen, so gut wie sicher.

Ja, aber da ist ja seit diesem Jahr noch eine andere ernst zu nehmende Partei: Die Kommunisten, die sich im Augenblick "Die Linke" nennen. Sie erreichen in der Umfrage 6 Prozent.



Nun wollen wir ein wenig rechnen. 49 Prozent für Schwarzgelb plus 43 Prozent für Rotgrün plus 6 Prozent für die Kommunisten macht zusammen 98 Prozent. Also bekämen in Hessen die "Sonstigen" nur - ein sehr niedriger Wert - 2 Prozent.

Das könnte bedeuten, daß Schwarzgelb mit 49 Prozent der Stimmen gerade eben die absolute Mehrheit von 56 der 110 Sitze erreicht oder diese knapp verfehlt.

Angenommen, es reicht nicht. Muß Koch dann um sein "Regierungsamt zittern"? Keineswegs, sollte man meinen.

Denn Rotgrün wäre ja weit von einer Mehrheit entfernt. Es bestünde eine ähnliche Situation wie 2005 im Bund: Koch könnte eine Große Koalition anführen oder - falls dergleichen zustandekäme - eine Jamaika- Koalition.

Abgelöst werden könnte er allenfalls dann, wenn die FDP in einem Ampel- Bündnis Frau Ypsilanti zur Ministerpräsidentin mitwählte; eine gerade in Hessen mit seiner linken SPD äußerst unwahrscheinliche Möglichkeit.



Also kann Roland Koch den Wahlen gelassen entgegensehen? Nicht ganz. Denn so völlig Unrecht haben "Spiegel Online" und "FAZ.Net" nicht. Zittern und sich fürchten müßte Koch dann, wenn die SPD und die Grünen bereit wären, bei einer entsprechenden Mehrheit eine Koalition mit den Kommunisten einzugehen.

Daß es diese Bereitschaft zu einer Volksfront- Koalition in Hessen gibt, das wird - Rayson hat heute darauf hingewiesen - von "Spiegel Online" ganz selbstverständlich vorausgesetzt, wenn es dort heißt: "Andererseits könnten aber auch SPD, Grüne und Linke zusammen keine Regierung bilden".

Gemeint ist nicht, daß sie das nicht könnten, weil Frau Ypsilanti ja nicht mit den Kommunisten koalieren würde. Sondern weil die momentane Umfrage diesem Bündnis eben auch nur 49 Prozent gibt. Ähnlich steht es auch bei "FAZ.Net".



In diesem Blog war seit Januar dieses Jahres immer wieder zu lesen, daß die politische Entwicklung in Deutschland aus meiner Sicht auf die Möglichkeit einer Volksfront- Regierung nach dem Vorbild des klassischen Front Populaire in den dreißiger Jahren zusteuert.

Was sich an meiner Einschätzung allerdings im Lauf des Jahres geändert hat, das ist die Prognose der Wahrscheinlichkeit, wann das der Fall sein wird. Anfang des Jahres hielt ich noch die übernächsten Bundestagswahlen 2013 für wahrscheinlich, dann schon die kommenden Wahlen 2009. Vor vier Wochen habe ich die Befürchtung zu Protokoll gegeben, daß der Wechsel der Koalition sogar noch früher stattfinden könnte.

Die Volksfront hätte bekanntlich im jetzigen Bundestag eine komfortable Mehrheit. Mit einem Konstruktiven Mißtrauensvotum könnten die drei Fraktionen jederzeit die Kanzlerin stürzen und Kurt Beck oder wen auch immer zum Kanzler einer Volksfront wählen. Aus der Regierung heraus hätte die Volksfront eine ausgezeichnete Chance, 2009 vom Wähler bestätigt zu werden.

Die jetzigen Umfragen zu Hessen (und ähnlich zu Hamburg) weisen darauf hin, wann das passieren könnte - nämlich während oder nach den Koalitionsverhandlungen, die nach dem 27. Januar sehr wahrscheinlich in Hessen und nach dem 24. Februar in Hamburg erforderlich sein werden.

Sollte es in einem oder in beiden Ländern nicht zu Schwarzgelb reichen, dann werden Koch und/oder von Beust der SPD eine Große Koalition anbieten. Innerhalb der SPD wird es in beiden Ländern aber einen erheblichen Druck in Richtung auf eine Volksfront geben.

Es ist so gut wie sicher, daß das erhebliche Auswirkungen auf die Situation in Berlin haben wird.

Sollte die SPD in beiden Ländern für die Große Koalition optieren, dann wird diese auch in Berlin vermutlich bis zum Ende der Legislaturperiode halten. Gibt es aber in einem der beiden Länder oder gar in beiden die Volksfront, dann wird das zu einer solchen Belastung der Koalition im Bund führen, daß die Forderungen nach deren Beendigung immer lauter werden dürften. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, das wird die Devise sein.

Das wird dann die Stunde derer sein, die in allen drei Parteien das neue Historische Bündnis der Arbeiterklasse mit dem progressiven Bürgertum schon seit langem vorbereiten.

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Marginalie: "Tatort", Aleviten, Özcan Mutlu. Wie man Vorurteile schürt

Die ARD hat eine "Tatort"-Folge mit dem Titel "Wem Ehre gebührt" gezeigt, die zu heftigen Reaktionen geführt hat. Soweit ich es den Berichten entnehme - ich habe die Sendung nicht gesehen - geht es, wie meist in solchen Krimis, um einen Tod und seine Hintergründe.

Tot ist eine Frau, die erhängt aufgefunden wird. Zu den Hintergründen ihres Todes, die vermutet oder angedeutet oder nahegelegt oder aufgedeckt werden - so genau geht das aus den Berichten nicht hervor - gehört ein Inzest mit ihrem Vater.

Ein beliebtes Motiv also. Ein Motiv aus dem Bereich der Themen, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten beschäftigt haben. Also ein Thema, das in einer um Zeitnähe bemühten Krimi- Serie wie "Tatort" seinen Platz hat.



Die Tote in dem Film ist, wenn ich den Berichten folge, eine Deutsche. Sie ist allerdings eine Deutsche ausländischer, nämlich türkischer Herkunft. (Solche Deutsche nennt man seltsamerweise nicht Deutsche, sondern Türken, Deutschtürken; aber das ist ein anderes Thema). Der Name der Autorin des Films, Angelina Maccarone, läßt vermuten, daß sie eine Deutsche italienischer Herkunft ist.

Einwanderung nach Deutschland ist eines ihrer Themen; sie hat zuvor einen Film über zwei aus Afrika stammende deutsche Frauen gedreht und einen über eine lesbische Iranerin, die nach Deutschland flieht, um hier der Verfolgung zu entgehen, und die sich als Mann verkleidet.

Die Themen der Filme, die Angelina Maccarone bisher gedreht hat, weisen darauf hin, daß sie sich vor allem für die Situation von Frauen und für Einwanderung nach Deutschland interesssiert.

In dem Interview mit der Internet- Publikation After Ellen stellt sie zwischen diesen beiden Motiven einen Zusammenhang her, und zwar über den Begriff der Identität: "I believe that identity is to a great extent defined by where we live, what we do, whom we love, etc."; die Identität (die sexuelle wie die nationale ist gemeint) sei zu einem großen Teil dadurch definiert, wo wir leben, was wir tun, wen wir lieben.



Der Tatort "Wem Ehre gebührt" variiert diese beiden Themen. Was also hat zu der Aufregung um ihn geführt? Das erläutert ausführlich der Deutsche türkischer Herkunft Özcan Mutlu, Abgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, in der "Welt"; und was er schreibt, veranlaßt mich zu dieser Marginalie.

"Hat die Drehbuchautorin nicht verstanden, welche politische Brisanz das Thema in sich birgt?" fragt Mutlu. Er schildert die Situation der Aleviten in der Türkei und verweist darauf, daß die dort mehrheitlichen Sunniten "den Aleviten über Jahrhunderte 'Inzest' vorgeworfen haben". Daraus leitet er die Forderung ab: "Die ARD und die Autorin sollten sich öffentlich entschuldigen".

Andere gehen noch weiter. Es liegt gegen die Regisseurin eine Anzeige wegen Volksverhetzung vor. Es wird ihr vorgeworfen, sie hätte "Vorurteile unterstützt".



Wie "unterstützt", wie "schürt" man ein Vorurteil? Man sollte meinen, indem man es verkündet, es als seine Meinung kundtut. Indem man beispielsweise sagt: "Die Amerikaner sind schießwütige Cowboys", "Die Juden sind geldgierig", "Die Italiener sind faul", "Alle Männer sind potentielle Vergewaltiger"; dergleichen.

Nichts dergleichen tut der Film von Angelina Maccarone in Bezug auf die Aleviten. Er sagt es nicht, er deutet es nicht an. Er zeigt lediglich einen Fall von Inzest oder vermutetem Inzest in einer Familie alevitischen Glaubens.

Wenn man sich dafür "entschuldigen" muß, wenn das gar "Volksverhetzung" ist - was darf dann überhaupt noch in einem Film gezeigt werden?

Es gibt das Vorurteil, daß die Amerikaner rücksichtslose Egoisten sind. Ist also jeder Film "Volksverhetzung", in dem ein Amerikaner vorkommt, der ein rücksichtsloser Egoist ist? Hätte Billy Wilder sich für "Eins, zwei, drei" entschuldigen müssen?

Es gibt das Vorurteil, daß die Franzosen faule Freunde des savoir vivre sind. Darf also in keinem Film ein Franzose gezeigt werden, der so lebt wie Jean Gabin in "Im Kittchen ist kein Zimmer frei"?

Es gibt das Vorurteil, die Deutschen seien der Typ des Untertanen. Hätte sich also Wolfgang Staudte dafür entschuldigen sollen, daß er Heinrich Manns "Der Untertan" verfilmte?



Ich will dem Abgeordneten Mutlu zugutehalten, daß er sich keine Gedanken gemacht hat. Daß er nicht darüber nachgedacht hat, wie absurd es wäre, jede Filmfigur, jede Filmhandlung zu kritisieren, wenn nicht gar mit einer Anzeige zu überziehen, die irgendeinem Vorurteil entspricht.

Daß es das Ende der Filmkunst wäre, wenn an alle Filme die Maßstäbe angelegt würden, die Mutlu, die mit ihm die alevitische Gemeinde Berlin mit ihrer Strafanzeige an den Film "Wem Ehre gebührt" angelegt hat. Wenn die Eigenschaften, die Drehbuch und Regie einer beliebigen Filmfigur zuweisen, so gewertet würden, als sollten sie der ethnischen, religiösen, der rassischen oder sonst einer Gruppe als Ganzes zugeschrieben werden, der diese Figur angehört.

Dieser Artikel des Abgeordneten der Grünen Özcan Mutlu könnte freilich seinerseits ein Vorurteil schüren. Das Vorurteil nämlich, daß Abgeordnete der Grünen kein Verständnis für Freiheit und Toleranz haben.

Genauer: Daß sie zwar Freiheit und Toleranz für sich selbst und ihre Auffassungen fordern, aber die Freiheit anderer einschränken wollen, wo sie nur können.

Ein Vorurteil? Ja, gewiß. Es gibt mit Sicherheit Abgeordnete der Grünen, auf die das nicht zutrifft. Und wenn Mutlu erstens intolerant und zweitens ein Abgeordneter der Grünen ist, dann folgt daraus noch lange nicht, daß die Abgeordneten der Grünen intolerant sind.

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28. Dezember 2007

Kennedy, Rabin. Jetzt Bhutto

Es gibt politische Morde, deren Bedeutung in ihrem Symbolwert liegt. Der Mord an Kennedy zum Beispiel, der wenig am Gang der amerikanischen Politik änderte, der aber die Welt aufwühlte, weil er das Ende der relativen Sicherheit der Nachkriegszeit signalisierte, den Einbruch des Verbrechens in die politische Welt der fünfziger, der frühen sechziger Jahre.

Es gibt Morde an Politikern, deren Bedeutung mehr eine unmittelbar politische ist. Der Mord an Yitzak Rabin ist ein Beispiel. Rabin war der einzige gewesen, der als Kriegsheld bei den Israelis ein solches Vertrauen genoß, daß er einen Ausgleich mit den Arabern wagen konnte und ihn hätte durchstehen können; auch mit großen Opfern auf der Seite Israels. Mit dem Mord an ihm war der Prozeß von Oslo gescheitert, auf israelischer Seite. Daß er auf der arabischen Seite in der Zeit danach noch viel gründlicher scheiterte, aus anderen Ursachen, ist freilich wahr.

Und es gibt Morde, die beides sind - von hohem Symbolwert und zugleich von massiver Bedeutung für die politische Lage. Das trifft, so fürchte ich, für den Mord an Benazir Bhutto zu.



In den kommenden Tagen wird viel darüber geschrieben und diskutiert werden, ob Benazir Bhutto nun die Lichtgestalt war, als die sie sich darstellte; die Frau, die sich für ihr Land einsetzte, obwohl sie das bequeme Leben einer Reichen im Exil hätte führen können. Oder ob sie so war, wie ihre Gegner sie sehen - eine Politikerin aus einer korrupten Familie, die sich an die Amerikaner verkaufte, um ihres persönlichen Vorteils willen.

Mir scheint diese Frage ziemlich unwichtig zu sein. Was den Mord an Frau Bhutto so bedeutsam, so im wahrsten Sinn schrecklich bedeutsam macht, das ist zum einen sein Symbolwert und es ist zum anderen die politische Situation, die nach ihm entstanden ist.

Benazir Bhutto war eine moderne Frau, die das moderne Pakistan verkörperte.

Das Pakistan der Mittel- und Oberschicht, die europäisch gebildet oder mindestens durch die europäische Kultur beeinflußt ist; die Englisch als Muttersprache oder als zweite Sprache hat. Das Pakistan der Wissenschaftler und Geschäftsleute, die international vernetzt sind und die von einem Land träumen, das wie sein Nachbar Indien in das Kommunikations- Zeitalter eintritt.

Das Pakistan der Militärs auch, die in diesem Land eine ähnlich große Rolle spielen wie in der Türkei. Viele in Sandhurst ausgebildet; mit nicht nur britischem Drill in den Knochen, sondern auch britischen Ideen im Kopf.

Der Symbolwert des Mords liegt darin, daß mit Frau Bhutto dieses moderne, dieses nach vorn gerichtete Pakistan getroffen wurde; daß die Tat ein Triumph des islamistischen, des rückwärts gewandten Pakistan ist.



Zu diesem modernen Pakistan gehört auch Präsident Musharraf. Nur repräsentiert er, der Berufssoldat, nicht dessen liberale, weltoffene Seite. Für diese stand Benazir Bhutto.

Es scheint, daß die beiden einen Pakt geschlossen hatten; daß nach den Wahlen Bhutto Ministerpräsidentin unter dem Präsidenten Musharraf hätte werden sollen.

Dieses Bündnis hätte - vielleicht, man wird es jetzt nie wissen - das moderne Pakistan erfolgreich gegen die islamistische Bedrohung verteidigen können.

Gegen die Bedrohung durch das Bündnis auf der anderen Seite des political divide, des politischen Grabens, der Trennlinie. Gegen das Bündnis von Taliban und El Kaida; das Bündnis ideologischer Fanatiker mit den ungebildeten Massen; das Bündnis derer, die in den Stammesregionen Angst vor der Moderne haben und derer, die in den Städten zu den Verlierern der Gesellschaft gehören.

Der - von den USA, direkter noch von England unterstützte - Versuch, durch ein Zusammengehen zwischen Musharraf und Bhutto dieser Bedrohung zu begegnen, ist nun zu Ende, bevor er überhaupt begonnen hatte. Musharraf ist jetzt das letzte Bollwerk gegen die Islamisten in Pakistan. Ein brüchiges, ein vielleicht schon einstürzendes Bollwerk.



Die Parallele zum Mord an Yitzak Rabin erscheint offenkundig: Von einem Tag auf den anderen haben sich die grundlegenden politischen Gegebenheiten in einem Land geändert. Ein Weg, der erfolgversprechend erschien, ist verbaut.

Damit endet freilich die Parallele. Im Nahen Osten zerbrach mit dem Mord an Rabin der Friedensprozeß; aber es änderten sich nicht die Machtverhältnisse. Jedenfalls nicht fundamental. Das aber ist in Pakistan zu befürchten.

Eine demokratische Entwicklung ist auf absehbare Zeit ausgeschlossen; schon deshalb, weil kaum ein demokratischer Politiker sich bereitfinden wird, wie Benazir Bhutto sein Leben für seine politischen Ziele aufs Spiel zu setzen.

Jetzt heißt es, so unangenehm das ist: Musharraf oder der Islamismus. Präsident Bush wird nichts anderes bleiben, uns Europäern, sogar einer Präsidentin Clinton oder einem Präsidenten Obama wird nichts übrigbleiben, als Musharraf mit allen Mitteln zu unterstützen.

Nein, kein idealer Verbündeter, gewiß nicht. Aber der einzige, der jetzt noch verhindern kann, daß uns demnächst die El Kaida mit Atomwaffen bedroht.

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Marginalie: Eine Meldung aus den Niederlanden

In den Niederlanden haben Menschen unter 27 Jahren, wie die FAZ meldet, grundsätzlich keinen Anspruch auf Sozialhilfe mehr.

"Jugendliche, die geistig und körperlich gesund sind, gehören nicht in die Sozialhilfe", sagte dazu der zuständige Staatssekretär im Arbeits- Ministerium. Stattdessen sollen den Betreffenden Arbeits- oder Ausbildungsplätze angeboten werden. Wer sich weigert, ein solches Angebot anzunehmen, erhält keine staatliche Stütze.



Vernünftig, nicht wahr? Aber bei uns wäre doch so etwas gewiß nicht durchsetzbar, mit Sozialdemokraten in der Regierung, meinen Sie?

Gut möglich. Nur ist das Interessante an der Meldung, daß die niederländische Regierung, die diese Initiative ergriffen hat, eine Große Koalition aus Sozial- und Christdemokraten ist, unter Einschluß einer weiteren, kleinen Partei. Und daß der zuständige Staatssekretär den Namen Ahmed Aboutaleb trägt.

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Zitat des Tages: Was gestattet ist und was nicht

Zudem sei nicht nachvollziehbar, so Nerz, wieso das Betreiben eines Bordells gestattet sei, nicht aber eines Raucherlokals.

Die SZ über die Verfassungsklage von Birgit Netzle-Piechotka, Wirtin des "Asam-Schlössls" in München, gegen das neue bayerische Gesundheitsschutzgesetz, das Rauchen in Gaststätten generell verbietet. Die Klägerin wird vertreten durch den Rechtsanwalt Alexander Nerz.

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Zettels lobender Jahresrückblick (2): Walter Kempowskis Ruhm. Spät, aber noch rechtzeitig

Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, heißt es. Dem Dichter schon, sollen wir uns dazu denken. Nur, was haben sie von den Kränzen, die ihnen die Nachwelt flicht, alle diese zu Lebzeiten Verkannten, diese Kleist, Fontane, Kafka, Arno Schmidt?

Manche andere ernten dagegen frühen Ruhm und sonnen sich in ihm ihr Leben lang. Gerhart Hauptmann, der als Dreißigjähriger "Die Weber" schrieb. Thomas Mann, der mit den "Buddenbrooks" berühmt wurde, als er noch keine dreißig war. Günter Grass, dem es mit der "Blechtrommel" ähnlich ging, da war er dreiunddreißig. Hochgeehrt ihr Leben lang alle drei; alle drei mit dem Nobelpreis bedacht.

Alle drei nicht nur in Hinsicht auf diesen frühen und anhaltenden Ruhm in den Fußstapfen Goethes sich bewegend, sondern jeder, auf seine Art, auch mit der Allüre eines deutschen Dichterfürsten. Ob sie, ob auch nur einer von ihnen auf Dauer von der Nachwelt Kränze geflochten bekommen wird, weiß man freilich nicht. Ich habe da meine Zweifel.

Reden wir jetzt aber von den anderen, den Nicht- Fürsten.

Daß Kleist, daß Kafka zu Lebzeiten "verkannt" blieben, mag sich schlicht darin begründen, daß eben ihre Lebenszeit zu kurz bemessen war. (Vielleicht, vielleicht auch nicht - als hochgeehrte, vom Thron des Meisterdichters herab uns grüßende Bekränzte kann ich sie mir beide nicht so recht vorstellen, selbst wenn sie das Greisenalter erreicht hätten).

Bei anderen, wie Fontane, Robert Walser, Arno Schmidt lag es wohl teils an ihrer Sprödheit, daß sie es nicht zur Berühmtheit zu Lebzeiten brachten; teils mag eine Rolle gespielt haben, daß ihre Kunst nicht den Moden ihrer Zeit entsprach.



So war es auch bei Walter Kempowski, der am 5. Oktober dieses Jahres an Darmkrebs starb.

Nein, nur fast war es so. Denn kurz vor seinem Tod erlebte Walter Kempowski noch die Genugtuung, die ihm zeitlebens verwehrt geblieben war:

Jetzt, jetzt auf einmal in diesen letzten Jahren, folgte Ehrung auf Ehrung. 2005 erhielt er den Thomas- Mann- Preis der Stadt Lübeck, den Hans- Erich- Nossack- Preis des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und den Ehrenpreis des Bayerischen Ministerpräsidenten, 2006 den Hoffmann- von- Fallersleben- Preis und - endlich! - den Kulturpreis des Landes Mecklenburg- Vorpommern.

Und in diesem Jahr 2007 wurde er Ehrenmitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg. Und es wurde in der Berliner Akademie der Künste eine Ausstellung zu ihm und seinem Werk eröffnet; der Bundespräsident hielt die Laudatio.

Ich habe damals, im Juni, diese Ausstellung zum Anlaß genommen, eine Würdigung Walter Kempowskis zu schreiben. Ich hatte einen solchen Anlaß gesucht, weil ich mir vorgenommen hatte, mit der Hommage nicht bis zu seinem abzusehenden Tod zu warten. Denn was hat jemand davon, wenn er nach seinem Tod gelobt und gewürdigt wird?

Nein, ich hoffte, daß Kempowski den Text lesen würde, und machte ihn deshalb darauf aufmerksam. Er antwortete sehr freundlich, wenn auch die leise Verbitterung mitschwang, die er immer wieder durchblicken ließ. Ich denke, ich kann jetzt, wo er tot ist, aus seiner Antwort zitieren: " ... ich danke Ihnen sehr herzlich für Ihr Manuskript! Es ist immer interessant, wie andere Menschen kundig über mein Werk schreiben. Vor Tische las man's anders!"

Ja, so hat er es empfunden: "Vor Tische", also bis zu diesen letzten Lebensjahren, war er abseits gestellt worden; als einer, der nicht links genug war, der nicht den erwarteten Kotau vor den Großen des Kulturbetriebs machte. In einem seiner letzten Interviews, das er im Juli mit Peer Teuwsen von der "Weltwoche" führte, hat er das noch einmal gesagt:
Ich wurde nicht mal anerkannt als politischer Häftling. Ich musste als Krimineller rumlaufen und konnte doch Beamter werden, dank einem netten Schulrat. Als ich die zwanzig Jahre rumhatte, weckte ich meine Frau und sagte: So, jetzt ist die Sache verjährt. Ich habe wirklich gelitten unter der Missachtung und unter dem Verschweigen. Es gibt noch heute Zeitungen, in denen ich überhaupt nicht erwähnt werde.
Und an anderer Stelle des Interviews: "Ich bin konservativ und liberal, und das darf man in Deutschland nicht sein".

Das klingt bitter. Umso schöner, umso gerechter, daß er wenige Monate vor seinem Tod die Eröffnung der Berliner Ausstellung erleben konnte. Dem Deutschlandradio Kultur sagte er am Vorabend der Eröffnung, in seinem Leben habe es viele schöne Momente gegeben. "Der schönste wird morgen sein."

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27. Dezember 2007

Zettels lobender Jahresrückblick (1): Mein Buch des Jahres

Mein Buch des Jahres 2007 ist kein Buch, das 2007 erschienen wäre oder das es 2007 auf die Liste der Bestseller geschafft hätte. Gedruckt wurde meine Ausgabe schon 2005. Und das ist der Nachdruck eines Werks, das in der DDR bereits zwanzig Jahre zuvor erschienen war. Mit Texten, die aus den Jahren 1586 bis 1638 stammen. Im zweiten Teil mit Briefen und Dokumenten, die zwischen 1590 und 1642 geschrieben wurden.

Ein Buch "des Jahres 2007" also nur in dem Sinn, daß ich es in diesem Jahr gekauft und gelesen habe. Es ist:
Anna Mudry (Hg.), Galileo Galilei. Schriften Briefe Dokumente. Wiesbaden: VMA Verlag, 2005


Galilei war Zeitgenosse von René Descartes. Sie starben im Abstand von acht Jahren; Galilei im Januar 1642, Descartes im Februar 1650.

Allerdings gehörten sie verschiedenen Generationen an. Als Descartes 1596 geboren wurde, war Galilei schon ein Mann von 32 Jahren und hatte bereits seinen zweiten Lehrstuhl inne. Er war damals Professor für Geometrie, Mechanik und Astronomie an der Universität Padua, nachdem er zuvor in Pisa Mathematik gelehrt hatte. Als eine Stadt in der Republik Venedig bot Padua ihm eine besonders liberale Arbeitsumgebung.



Galilei, unter dem Schutz der Republik Venedig seinen Studien nachgehend - das kennen wir.

Wir kennen es aus den ersten Szenen von Brechts "Leben des Galilei". Ungefähr so, wie unser Bild Cäsars durch Shakespeare geprägt ist, bestimmt Brechts Sicht auf Galilei die Vorstellung, die wir uns von diesem Mann machen. Jedenfalls für die meisten von uns ist der historische Galilei gewissermaßen überschrieben worden durch die Figur, die Brecht entworfen hat. Die er als Künstler entworfen hat, als ein ungewöhnlich stark politisch festgelegter Künstler.

Also ist unser Galilei einer, der viele Züge des armen B.B. trägt - oder vielmehr des listigen, des immer als Aufklärer sich präsentierenden B.B. Desjenigen, der den Kapitalismus durchschaut hat, der sich seiner Gesetze bedient, um ihn zu überwinden.

Also beginnt Galilei, kaum daß das Stück begonnen hat, um sein Gehalt zu feilschen. Also ist er durch das ganze Stück hindurch derjenige, der verstanden hat, wie sie sich bewegt, die Welt. Eppur si muove, wir kennen das. Derjenige, der von den Kräften des Gestern verfolgt und behindert wird, der Römischen Kirche also. Der sich diesen vorerst Stärkeren fügt, wohl wissend, daß seine Einsichten siegen werden, weil der Fortschritt nicht aufzuhalten ist. Dem es wichtiger ist, nach einer erzwungenen Abschwur weiterarbeiten zu können, als standhaft unterzugehen.

Kurzum - Brechts "Leben des Galilei" handelt von Fortschritt und Reaktion, von Geist und Macht. Auch - Brecht hat die letzten Szenen entsprechend geändert, als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki explodiert waren - von der Verantwortung des Wissenschaftlers.

Es handelt damit nur am Rande - und das ist mir bei der Lektüre von Galileis Schriften allmählich deutlich geworden - von dem Wissenschaftler Galilei.



Daß er ein Zeitgenosse von Descartes war, habe ich mir anfangs der Lektüre immer wieder vor Augen führen müssen, auch wenn es mir als abstraktes Wissen so ungefähr klar gewesen war. Aber "gegenwärtig" ist es mir nicht gewesen.

Ich vermute, es ging mir so wie vielen anderen, für die Descartes ein "Moderner" ist und Galilei einer, der noch sozusagen mit einem Bein im Mittelalter steht, aus dem er sich, das Bein gewissermaßen aus der Falle des Unwissens ziehend, herauszuarbeiten trachtete.

Descartes, das ist für uns der Beginn der Philosophie der Neuzeit. Der erste, der das über sich selbst reflektierende Ich zum Ausgangspunkt genommen hat. Derjenige, dessen Ideen auf dem europäischen Kontinent von Spinoza, von Leibniz und schließlich von Kant weiterentwickelt wurden; bei den Briten von Locke, Berkeley, Hume.

Wir sehen ihn sozusagen durch die Brille dieser späteren Philosophen, den René Descartes. Und sehen ihn also als einen Modernen; als den Vorläufer der Aufklärung, die dann mit John Locke voll anhebt.

Galilei dagegen ist, zumal durch den Einfluß Brechts, für uns dem Ende des Mittelalters näher als der Neuzeit. Umgeben von rot gewandeten Kurienkardinälen, die ihm die Folterwerkzeuge vorzeigen lassen, so stand er mir immer vor Augen.

Nachdem ich seine Schriften gelesen habe, halte ich das für ein völlig irriges Bild. Galilei war in zentralen Punkten ungleich moderner als Descartes.

Würde man beide, Descartes und Galilei, eine Zeitreise machen lassen, die mitten hinein in eine Diskussion unter heutigen Naturwissenschaftlern führt und würde man ihnen die nötigen Sprachkenntnisse mitgeben - Descartes würde kopfschüttelnd dasitzen und nichts verstehen. Er würde wohl nicht einmal einsehen können, daß es um Wissenschaft geht - nicht clare et distincte genug, nicht deduktiv genug. Unsicher alles; nichts für diesen Mann, der die Sicherheit der Erkenntnis über alles stellte.

Galilei würde natürlich auch den Inhalten nicht folgen können. Aber den Stil der Diskussion würde er sofort nachvollziehen: Das Erwägen von alternativen Möglichkeiten, deren Prüfung an der Befundlage, Erörterungen, die zu Wahrscheinlichkeiten führen und nicht zur metaphysischen Gewißheit.



Die Schriften Galileis sind, was die formale Durcharbeitung, was die Stringenz der Argumentation angeht, mit denen Descartes' nicht vergleichbar. Descartes schreibt wie ein Mathematiker. Galileis Stil bewegt zwischen der nüchterner Mitteilung und - dort, wo er überzeugen möchte - einer fast belletristischen Eloquenz und Anschaulichkeit.

Descartes war in gewisser Weise auch ein Naturwissenschaftler; sein Werk Le Monde war als so etwas wie eine Grundlegung der Naturwissenschaften konzipiert. Er war auch durchaus an empirischen Details beispielsweise der Anatomie interessiert.

Aber es fehlte ihm weithin das, was Galilei auszeichnete: Das induktive Denken, das von Beobachtungen statt von abstrakten Fragen ausgeht; das ständige Infragestellen von scheinbar sicheren Voraussetzungen. Das Abwägen von Erklärungen gegeneinander. Und vor allem die Ableitung von Hypothesen, die sich dem empirischen Test unterwerfen lassen.

Descartes hat mit seinem systematischen Zweifel, mit seinem Bemühen um eine Mathematisierung der Wissenschaft, mit seinem mechanistischen Denken Grundlagen der modernen Wissenschaft gelegt. Aber er hat selbst nur selten wirklich wissenschaftlich geforscht. Galilei hingegen war Wissenschaftler durch und durch.

Er hat verstanden, daß Wissenschaft Methode ist, Handwerk. Daß Ausprobieren wichtiger ist als Deduzieren. Daß entscheidende Fortschritte durch neue Geräte erreicht werden, mehr als durch neue Ideen.

Das Fernrohr hat er nicht erfunden; aber er hat sofort erkannt, welchen ungeheuren wissenschaftlichen Nutzen dieses Instrument in sich barg.



Die für Galilei vielleicht bezeichnendste Schrift in der Textsammlung ist Siderus Nuncius, die "Sternenbotschaft" von 1610, "worin die unlängst mit Hilfe eines neuen Sehglases, auf dem Antlitz des Mondes, auf der Milchstraße, an den Nebelsternen, unzähligen Fixsternen und an vier zuvor noch nie gesehenen und Mediceische Gestirne genannten Planeten gemachten Beobachtungen berichtet und erklärt werden".

Mit diesem Untertitel der Schrift hat man im Grunde den ganzen Galilei - den Empiriker, der das neue Instrument sozusagen nach Strich und Faden nutzt; den sorgfältigen Beobachter. Aber auch den, der erklärt. Den Theoretiker, der nicht ruht, bis er eine Erklärung hat, die alle bisherigen Beobachtungen abdeckt; that accounts for them, wie man es in der Sprache der heutigen Wissenschaft sagt - die ihnen so Rechnung trägt, daß alles ohne Rest aufgeht.

Galilei beobachtet den Mond solange, bis er sicher ist, daß die dunklen Flecken Schatten sind. Der Mond weist also Erhebungen auf; entgegen der tradierten Vorstellung, daß alle Himmelskörper vollkommene Kugeln sind.

Aber warum sehen wir von diesen Erhebungen nichts an der Peripherie des Mondes; warum sieht er nicht wie ein "Zahnrad" aus? Kaum hat Galilei eine Hypothese bestätigt, da findet er schon wieder Zweifel an ihrer Richtigkeit, die ihn zu weiteren Überlegungen führen. Ebenso bei der Entdeckung, daß die Milchstraße sich aus Myriaden von Sternen zusammensetzt, daß um den Jupiter Monde kreisen.



Der Siderus Nuncius ist nicht die bekannteste Schrift Galileis. Das ist diejenige, die ihm die Verfolgung durch die Kurie eingebracht hat, die aber nicht seine wissenschaftlich originellste ist: Der "Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische". Veröffentlicht erst 1632; aber viel früher konzipiert, schon 1626 fast abgeschlossen.

Wissenschaftlich eigentlich nichts Neues: Unter Wissenschaftlern waren längst die Würfel zugunsten des kopernikanischen Systems gefallen. Neue Ideen, neue Beweise trug Galilei in dem "Dialog" kaum vor. Er nutzte nur seine Beobachtungen, die er weitgehend schon im Siderus Nuncius publiziert hatte, als weitere Belege für die Richtigkeit des kopernikanischen Systems; und er verknüpfte beides mittels seiner Mechanik.

Dieser Dialog war mehr ein Fazit seiner Forschung, als daß er damit wissenschaftliches Neuland betreten hätte. Die Anwendung der Mechanik auf die Kosmologie.

Diese seine Mechanik nun ist wohl die große, die bahnbrechende Leistung des Wissenschaftlers Galilei. Sie war sein erstes und sein eigentliches Forschungsgebiet; über sie hat er immer wieder geschrieben. Eine Art Summa sind die Discorsi von 1638; wie der Dialogo als Gespräch zwischen drei Personen gestaltet - einem Anhänger der Physik des Aristoteles, einem Teilnehmer, der die Position Galileis vertritt, und dem neutralen Dritten Sagredo, um dessen Zustimmung die beiden anderen ringen.

Da geht es um Themen wie das spezifische Gewicht - wieviel wiegt Luft? Wie kann man das messen? -, um Bewegungen wie die eines Körpers auf einer Wurfbahn. Vor allem aber geht es um die Grundlagen der Mechanik; um Gesetze, die Galilei - wie später Newton - in Theoremen und Zusätzen faßt (zum Beispiel im Theorem 2: "Wenn ein Körper von der Ruhelage aus gleichförmig beschleunigt fällt, so verhalten sich die in gewissen Zeiten zurückgelegte Strecken wie die Quadrate der Zeiten").



In beiden Werken - dem über die Mechanik und dem über die kosmologischen Theorien - setzt sich Galilei immer wieder mit Aristoteles auseinander.

Das hat zu einer Sicht geführt, die ich auch lange Zeit geteilt hatte, bevor ich mich erst mit Aristoteles und jetzt mit Galilei beschäftigt habe: Daß Aristoteles ein noch nicht wissenschaftlich denkender Philosoph gewesen sei, der Schein- Erklärungen vorgetragen habe, während Galilei als Erster wahrhaft wissenschaftlich an die Probleme der Mechanik und der Astronomie herangegangen sei. Der Psychologe Kurt Lewin hat das z.B. in einer 1931 erschienen Schrift behauptet, in der er die "galileische und aristotelische Denkweise" kontrastiert.

Tatsächlich setzt sich Galilei zwar mit Ironie und Schärfe mit denjenigen auseinander, für die jede Auffassung Aristoteles' ein Dogma ist. Aber Aristoteles selbst ist für ihn gewissermaßen ein wissenschaftlicher Diskussions- Partner, über zwei Jahrtausende hinweg.

Er untersucht dessen Argumente, prüft seine Voraussetzungen, weist auf Inkonsistenzen hin. Er behandelt ihn als Seinesgleichen. Nicht als absolute Autorität, aber gewiß auch nicht als jemanden, der als Wissenschaftler nicht ernst zu nehmen wäre.



Und er klärt in dieser Auseinandersetzung mit Aristoteles fundamentale Fragen. Zum Schluß ein Beispiel für diesen virtuellen Dialog über die Jahrtausende:

Es geht - ziemlich am Anfang des Dialogo - um die Frage, ob die Erde sich um ihre eigene Achse dreht. (Daß sie rund ist, war schon für Aristoteles selbstverständlich gewesen).

Nein, hatte Aristoteles argumentiert. Denn würde sie sich drehen, dann dürfte ein sehr hoch in die Luft geworfener Körper nicht zu der Stelle herabfallen, von der aus er geworfen wurde. Sondern er müßte auf eine Stelle weiter "hinten" auf der sich drehenden Erde fallen, weil diese sich, während er unterwegs ist, ja weiter gedreht hätte.

Die Auseinandersetzung mit diesem Argument (das es in verschiedenen Versionen gibt - zum Beispiel müßte eine in Drehrichtung der Erde abgefeuerte Kugel weiter fliegen als eine entgegen dieser Richtung geschossene; zum Beispiel müßte eine von einem Turm geworfene Kugel schräg zu dessen Wand fallen) führt Galilei dazu, zu erörtern, was eigentlich Bewegung ist und wie eigentlich die Fallrichtung definiert ist.

Bewegung, sagt Galilei, ist immer relativ. Es gibt keine absolute Ruhe. Befindet sich also ein Körper in scheinbar ruhendem Zustand auf der Erdoberfläche, so macht er doch deren Bewegung mit. Das tut er auch, wenn man ihn hochwirft. Deshalb kann er nur dort wieder herunterkommen, von wo er hochgeworfen wurde. Er fällt "nach unten", aber das heißt nur: Hin zum Erdmittelpunkt. Also genau so wenig "schräg", wie auch der Turm auf der Erdoberfläche "schräg" steht.

Das sind Gedankenexperimente, es sind aus ihnen abgeleitete Argumente.

Aber sie widersprechen, wendet der Gesprächspartner Simplicio ein, doch Aristoteles, "der auf diesem Gebiet nicht hat irren können".

Worauf Sagredo, der zunehmend von Galileis Argumenten faszinierte Neutrale, antwortet: "Ich aber sage euch, daß wenn Aristoteles hier wäre, er entweder von uns überzeugt würde oder unsere Gründe widerlegte und uns eines Besseren belehren würde".

Besser kann man den Geist der Wissenschaft eigentlich nicht kennzeichnen.
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26. Dezember 2007

Zitat des Tages: "Der Arbeitsfrieden wird gefährdet"

If train engineers can negotiate their own terms, other small but influential sectors of the economy will probably take the same path. (...) This ... could lead to a sharp increase in the number of strikes, weakening an economy that has always been able to attract investors with the promise of stability at the workplace.

("Wenn die Lokomotivführer ihre eigenen Bedingungen aushandeln können, werden andere kleine, aber einflußreiche Sektoren der Wirtschaft wahrscheinlich denselben Weg gehen. (...) Das ... könnte zu einem steilen Anstieg in der Zahl der Streiks führen und eine Wirtschaft schwächen, die bisher Investoren stets mit dem Versprechen anlocken konnte, daß an den Arbeitsplätzen Stabilität herrscht.")

Judy Dempsey in der heutigen International Herald Tribune. Titel des Artikels: "Germany's postwar labor peace in jeopardy as train engineers strike" ("Streik der Lokomotivführer gefährdet den Nachkriegs- Arbeitsfrieden in Deutschland").

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25. Dezember 2007

Zitat des Tages: "Kein Ort für Diskussionen"

Die Staatsduma wählte den Chef der Kremlpartei Geeintes Russland, Boris Gryslow, abermals zum Vorsitzenden. Gryslow hatte in der Vergangenheit die Funktion der Staatsduma mit den Worten umschrieben, sie sei kein Ort für Diskussionen.

Die FAZ in ihrem gestrigen Bericht über die konstitutierende Sitzung der russischen Duma.

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24. Dezember 2007

Zitat des Tages: "Dramatische Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaft"

Das Internet hat den Konsumenten nicht ohnmächtig gemacht, sondern mächtig. Auf Knopfdruck kann man dort die Preise von Anbietern aus ganz Deutschland vergleichen. Dadurch ist der Wettbewerb im Einzelhandel viel größer geworden. Außerdem kann man durch Tausch etwa bei Ebay Konsumnutzen erlangen, ohne dass dafür jemand Güter neu produzieren muss. Das hat dramatische Wohlfahrtsgewinne für die Gesellschaft gebracht.

Hans-Werner Sinn in einem Interview der FAZ.

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23. Dezember 2007

Zitat des Tages: "Du warst brillant"

Te felicito por la seriedad y profundidad de tus palabras. Hablaste con claridad, precisión y brevedad. Me gustó el tono y la forma en que combinaste los datos escritos con reflexiones oportunas sobre los temas. (...) En síntesis, has estado brillante y no sólo en las palabras iniciales sino también durante la reunión.

("Ich beglückwünsche dich zum Ernst und zur Tiefe deiner Worte. Du sprachst mit Klarheit, Präzision und Folgerichtigkeit. Mir gefielen der Ton und die Form, in der du die schriftlichen Unterlagen mit treffenden Reflexionen über die Themen verbandest. (...) Kurzum, du warst brillant; und das nicht nur in den einführenden Worten, sondern während der gesamten Tagung".)

Fidel Castro an Hugo Chávez nach Abschluß einer Tagung der Erdöl- Organisation PETROCARIBE, in der Cuba, Venezuela und eine Reihe kleiner Inselstaaten der Karibik zusammengeschlossen sind. Am Ende der Tagung wurde eine erste Baustufe der Erdöl- Raffinerie Cienfuegos eingeweiht, die von Cuba und Venezuela gemeinsam gebaut und betrieben wird.

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22. Dezember 2007

Zettels Meckerecke: Weihnachtsbotschaft an Maddie

Von Anfang dieser seltsamen Affäre an hat mich das Verhalten der Eltern McCann verwundert.

Sie haben sich nicht so verhalten, wie Eltern es bisher taten, wenn ihnen ein Kind entführt worden war: Auf die Arbeit der Polizei vertrauen. Und/oder private Detektivbüros einschalten, wenn man sich das finanziell leisten kann.

Vielleicht auch eine oder zwei TV-Botschaften an die Entführer richten, um den Kontakt herzustellen, um vielleicht an einen Rest von Menschlichkeit in ihnen zu appellieren.

Aber dieser Medienrummel, dieses Einschalten von Prominenten, diese Geldsammlung - was sollte das?

Wie sollte das Entführer zur Kontaktaufnahme veranlassen? Wie sollte es sie, falls sie das Kind nicht zur Erpressung von Lösegeld, sondern aus anderen Motiven entführt haben sollten, zum Einlenken bringen?

Es liegt doch auf der Hand, daß Entführer, wenn sie denn das Kind noch lebend hatten, durch diesen massiven Druck nur in eine Paniksituation gebracht werden konnten, in der die Wahrscheinlichkeit wachsen mußte, daß sie das Kind töteten.

Also, das kam mir alles als sehr schwer nachvollziehbar vor; es erschien mir als ein realitätsfernes, unangebrachtes, auch recht theatralisches Verhalten. Als die Einzelheiten des Falls bekannt wurden, als sich herausstellte, daß die portugiesische Polizei die Eltern in ihre Ermittlungen einbezog, hat mich das nicht gewundert.



Jetzt, vor Weihnachten, nimmt dieses seltsam unangemessene, so offensichtlich nicht zielführende Verhalten der Eltern bizarre Züge an. Sie haben den Medien eine Video- Botschaft zur Verfügung gestellt, über die es in "Welt-Online" heißt:
In bewegenden Worten richtete sich Kate McCann an ihre Tochter: "Madeleine, hier sind Mama und Papa. Du sollst einfach wissen, dass wir dich lieben. Du fehlst uns so. Wir tun alles, was wir können, um dich wiederzufinden."
Ja, wie stellen sich denn die McCanns die Situation der Madeleine vor, von der sie - glauben wir es ihnen - denken, daß sie noch lebt?

Glauben sie, das Kind werde von Leuten gefangengehalten, die nichts Besseres zu tun haben, als ihm dieses Video zugänglich zu machen? Damit es weint, unglücklich ist, nach Hause will?

Und wie können die Eltern wollen, daß das Kind dann erfahren würde, wie sehr es ihnen fehlt? Würde das Madeleine denn trösten, die vielleicht gerade versucht, sich einer fremden Welt anzupassen, so gut es geht?



Mag sein, daß´damals, am dritten Mai, wirklich jemand in ein Appartment- Haus in Praia da Luz in eingedrungen ist, um ein schlafendes Kind aus seinem Bettchen zu nehmen und wegzutragen. Meines Wissens ist noch nie in der Kriminalgeschichte eine Kindesentführung so abgelaufen. Aber es mag ja so gewesen sein.

Dann war allerdings das Verhalten der Eltern hochgradig irrational und diente nicht der Rettung des entführten Kindes und nicht seinem Wohlergehen; von Anfang an bis jetzt zu dieser Botschaft.

Vielleicht diente es den Eltern dazu, mit ihrer Trauer fertig zu werden. Oder vielleicht doch mit ihrem Schuldbewußtsein?



Dies ist die letzte "Meckerecke" dieses Jahres. Bis Neujahr wird es in diesem Raum, wie überall in der Republik, etwas ruhiger zugehen. Ruhiger, was die Zahl der Artikel angeht. Ruhiger aber auch im Sinn von "besinnlich": Wie schon zu Ostern will ich mich auch jetzt wieder ein bißchen um das Positive kümmern.

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Zitat des Tages: "Das Thema Verbote auf den Tisch"

Sollten wir (...) feststellen, dass (...) Leistungssportler immer wieder in Werbespots für Alkohol auftauchen, kommt auch das Thema Verbote auf den Tisch.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing, in einem Interview mit der "Frankfurter Rundschau", in dem sie auch erklärt: "Nichtraucherschutz muss auch am Tresen gelten und sollte in der Kneipe ebenso verbindlich eingeführt werden wie im Restaurant." - In dem Interview gehen der Interviewer Michael Bergius und die Drogenbeauftragte mit keinem Wort auf Heroin, Kokain, Marihuana und andere illegale Drogen und die Bekämpfung von deren Konsum ein.

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21. Dezember 2007

Marginalie: Schengen - "Ein enormer Freiheitsgewinn"

Zu den Begriffen, die mit der DDR untergegangen sind, gehört das Wort "Grenzregime". Es wurde von den DDR- Behörden für das benutzt, was sie ihren Untertanen an Beschränkungen ihrer Freiheit zumuteten, wenn diese eine DDR-Grenze überschreiten wollten.

Das Wort eignet sich aber auch sehr dazu, überhaupt das Herrschaftssystem dieser DDR zu kennzeichnen: Es war als Ganzes ein "Grenzregime" in dem Sinn, daß die Obrigkeit sich das Recht herausnahm, ihren Untertanen in allen Lebensbereichen willkürliche Grenzen zu setzen. Sie nach Belieben einzuschränken nicht nur in ihrer Reisefreiheit, sondern auch in der Freiheit der Berufswahl, der Meinungsäußerung, der Erziehung ihrer Kinder.

Man war sozusagen umstellt von Grenzen, eingebaut in ganze Verschachtelungen von, in diesem übertragenen Sinn, "Grenzregimes".

Weshalb "hoffen", "dürfen" und "Glück haben" zu den Schlüsselbegriffen dieser DDR-Gesellschaft gehörten. "Wir hoffen, daß wir mal das Glück haben und reisen dürfen". Der Untertan kann nichts für sein eigenes Glück tun, er kann es nur haben, d.h. von seiner Obrigkeit geschenkt bekommen. Er kann nicht etwas wollen, sondern er kann nur darauf hoffen, daß er etwas darf. Daß die Obrigkeit in ihrem unerforschlichen Ratschluß es ihm gewährt. Daß sie hier und da mal eine Grenze kurz aufmacht.



Beschränkungen der Reisefreiheit waren immer ein Kernelement politischer Herrschaft. In der Antike bestanden sie oft darin, daß man verbannt wurde und nicht wieder in die Heimat zurückreisen durfte. Später ging es mehr darum, Untertanen daran zu hindern, ihrem Landesvater zu entkommen.

Kaum irgendwo trat dem Normalbürger, der sonst nichts "mit der Polizei zu tun" hat, die Staatsgewalt so unverhüllt entgegen wie an einer klassischen Grenze des 20. Jahrhunderts. Zollkontrolle auf der einen Seite, Paßkontrolle auf der einen Seite. Paßkontrolle auf der anderen Seite, Zollkontrolle auf der anderen.

Was die Polizei sonst nicht ohne einen konkreten Verdacht darf - an der klassischen Grenze ist es den Zöllnern erlaubt: Jemanden zu zwingen, seinen Wagen auszuräumen, alles offenzulegen, was er mit sich führt. Leibesvisitation inbegriffen. Eine Haussuchung ist nichts dagegen.

Nein, "zwingen" ist nicht ganz richtig. Man kann sich dieser Art von Kontrolle ja entziehen, indem man es einfach unterläßt, die Grenze zu passieren. Oder man tritt von dem Versuch, es zu tun, wieder "freiwillig" zurück.

Zu meinen bleibenden Erinnerungen an die DDR-Grenze gehört ein kleines Erlebnis, als wir via die Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße in die "Hauptstadt", also strenggenommen nicht die DDR, "einreisen" wollten. Da wurde ein junger Mann, vor uns in der Schlange, "zurückgewiesen" - und der Mensch am Schalter behauptete, als das von Wartenden negativ kommentiert wurde, er, der junge Mann, habe soeben beschlossen, nicht einzureisen.



Grenzen, die klassischen Grenzen, bedeuten Zwang. Die Aufhebung wenn auch nicht von Grenzen, so doch der klassischen Grenzen mit ihrem "Regime" ist ein Zugewinn an Freiheit.

Einen "enormen Freiheitsgewinn" hat Wolfgang Schäuble die Ausweitung des Schengen- Abkommens auf weitere Länder, darunter Polen und Tschechien, genannt. Recht hat er.



Hier in diesem Blog ist immer wieder Kritisches über die Brüsseler Bürokratie zu lesen, über die Einschränkungen unserer Freiheit, die durch die EU drohen oder schon in Kraft sind.

Absurditäten sind da zu nennen wie die, daß der kommunistische Europa- Abgeordnete André Brie allen Ernstes die EU-Kommission einschalten konnte, weil er in Hillmersdorf, Land Brandenburg, Landkreis Elbe- Elster, im Gebiet um den Lehmannsteich und den Graseteich die Fledermäuse bedroht sah.

Aber bei aller der leider sehr berechtigten Kritik an diesen Tendenzen, einen europäischen Superstaat mit einer alle Lebensbereiche durchdringenden Bürokratie entstehen zu lassen, sollte man doch nicht den ungeheuren Zuwachs an Freiheit vergessen, den das Zusammenwachsen Europas uns auch gebracht hat.

Wenn wir wieder einmal unsere Verwandten in Frankfurt/Oder besuchen, werden wir es genießen, einfach so über die Brücke nach Slubice zu spazieren. Über eine Grenze, die einmal, im Zeichen des "proletarischen Internationalismus", zu den dichtesten und bestbewachten Europas gehörte.

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20. Dezember 2007

Zitat des Tages: Wolfgang Clement über den Zustand der SPD

Was ich wahrnehme ist: Die Union folgt der SPD und die wiederum ist sehr fixiert darauf, was diese Lafontaine- und Gysi-Truppe macht. Deren Inhalte haben aber mit sozialdemokratischer Politik nichts zu tun. Das sozialdemokratische Thema heute ist Bildung, Wissenschaft, Qualifikation.

Wolfgang Clement, ehemaliger Stellvertretender Vorsitzender der SPD, in einem Interview mit der SZ. Ich empfehle die Lektüre des Interviews bis zum Ende; nämlich bis zu dem, was Clement über eine mögliche Koalition der SPD mit den Kommunisten sagt.

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19. Dezember 2007

Marginalie: Der informationsfreundliche Kanton Aargau und die Nervensäge Ulla Jelpke

Geht es Ihnen auch so? Seit der Sache mit dem Ex- Bundesrat Blocher interessiere ich mich mehr für die politischen Dinge in der Schweiz als zuvor, als dieses Land mein politisches Interesse ungefähr so sehr genoß wie Hillary Clinton mein erotisches.

Also, ich lese jetzt in Manfred Messmers "Arlesheim Reloaded" nicht nur die sozusagen überschweizerischen Artikel, sondern auch schon einmal den einen oder anderen Beitrag aus der und über die Schweiz. So heute etwas aus dem Kanton Aargau: Dieser weist seit 2001, so lesen wir, "bei jedem parlamentarischen Vorstoss die Kosten aus, welche die jeweilige Anfrage verursacht hat".

Eine glänzende Idee! Denn bei uns gilt es ja nachgerade als Ausweis der Tüchtigkeit eines Abgeordneten, möglichst viele - oft unnötige, sehr oft nur zwecks Agitprop gestellte - Kleine und Große Anfragen und Einzelanfragen zu formulieren. Die die Ministerial- Bürokratie in Trab setzen, die unser Steuergeld verschwenden.

Oft hätte es auch ein Telefonanruf getan, meint Manfred Messmer. Ja, gewiß, was den Informationshunger des betreffenden Abgeordneten angeht. Aber natürlich nicht, was die beabsichtigte Agitprop betrifft.

Den Begriff "Agitprop" verwende ich mit Bedacht. Denn kaum jemand ist im Bundestag so sehr mit Parlamentarischen Anfragen zugange wie die Grünen und die Kommunisten.

Die Zahl der Anfragen im Bundestag stieg von 907 in der ersten Legislatur- Periode 1949-1953 bis auf mehr als 20.000 seit der Legislatur- Periode 1976-1980. In der Legislatur- Periode 1994-1998 lag sie bei 156 Großen Anfragen, 2070 Kleinen Anfragen und 18.446 Einzelanfragen. Zur Halbzeit dieser Legislatur- Periode zog damals die "Welt" eine Zwischenbilanz:
Absolute Rekordhalter sind Bündnis 90/Die Grünen und PDS. 90 Prozent der Fragensammlungen gehen auf ihr Konto. (...)

So wollte der Grünen- Abgeordnete Volker Beck in gleich zwei Vorgängen mit jeweils neun Fragen von der Bundesregierung wissen, wie es mit der "Verfolgung von Schwulen und Lesben" in Rumänien und in El Salvador steht. Fünf Fragen mit mehr als zehn Unterpunkten stellte Beck später angesichts der "Besorgnis über die Menschenrechte von Schwulen und Lesben in Simbabwe". (...)

Die PDS-Abgeordnete Ulla Jelpke und ihre Gruppe verlangen regelmäßig Auskunft über vermeintlich rechtsextremistische Tendenzen. [Deren] Formulierungen (...) werden in der Bundesregierung als Versuch gesehen, schon über die Veröffentlichung der Frage als Bundestagsdrucksache Politik zu machen.
So ist es. Kein Wunder, daß die seinerzeitige PDS- Abgeordnete Ulla Jelpke "stolz" ist, "als Parlamentarierin die meisten Anfragen gestellt zu haben: 'Ich war die Nervensäge des Innenministeriums.'" So berichtete es die "taz" am Ende der vergangenen Legislaturperiode.

Könnte man - könnte zum Beispiel der "Bund der Steuerzahler" - dem Publikum mitteilen, wieviele Euro wir denn für diesen Fleiß der Abgeordneten Jelpke berappen mußten - wer weiß, vielleicht würde der Säge dann, wenn man mir den Kalauer verzeiht, ein paar Zacken aus der Krone fallen.

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Randbemerkung: Erscheinen Zeitschriften bald nur noch in Online-Ausgaben?

Darüber schreibt heute in der SZ Viola Schenz: "Im angloamerikanischen Medienmarkt, der nach wie vor als Vorbote und Vorbild gilt, wagen sich Verleger zu einem radikalen Schritt vor: 'Online oder gar nichts' lautet ihre Devise." Beispielsweise hätten das Lifestyle- Magazin Tango und das Teenie- Magazin Elle Girl die Print- Ausgaben zugunsten der Online- Ausgabe eingestellt.

Wird das ein allgemeiner Trend werden? Ich halte das für eher unwahrscheinlich, obwohl ich mich da eigentlich nur auf meine eigene Erfahrung stützen kann.

Ich hätte zum Beispiel als Abonnent des Nouvel Observateur Zugang zu dessen Online- Ausgabe. Die Franzosen sind sogar so nett, mir jede Woche, sobald die neue Ausgabe erschienen ist, den Link zuzumailen.

Nun gut, das Faksimile der Print- Ausgabe könnte ich mangels DSL ohnehin nicht abrufen. Aber jeder - man muß dazu nicht einmal Abonnent sein! - kann sich alle Artikel der laufenden und früherer Ausgaben in der Édition numérique ansehen; nur eben ohne das Layout und die Illustrationen der Print- Ausgabe. Sogar Artikel, die in der Auslands- Ausgabe fehlen, findet man dort.

Aber ich gehe selten auf diese Seiten. Denn ich sitze ja schon lang genug vor dem Bildschirm. Also genieße ich es, mich im Sessel oder auf dem Sofa niederzulassen und die Print- Ausgabe zu lesen. Oder im Sommer damit in den Garten zu ziehen.



Mag sein, daß sich das eines Tages ändert, wenn die Entwicklung weitergegangen ist, die jetzt z.B. durch den Kindle angestoßen wurde.

Angenommen, ein solches Lesegerät hätte Magazin- Format, wäre nicht schwerer als eine Zeitschrift und ließe sich blendfrei und kontrastreich auch im Freien lesen - ja, dann könnte ich mir vorstellen, meinen gedruckten Nouvel Observateur dagegen einzutauschen.

Nur, was hätte sich dann eigentlich geändert? Im Grunde doch für den Medienmarkt nichts. Ich würde dasselbe Magazin mit denselben Artikeln und Anzeigen kaufen wie bisher. Geändert hätte sich nur sozusagen der Vertriebsweg.

Eine Änderung vielleicht wie der Übergang von der Kamera mit dem chemischen Film zur Digitalkamera. Wir knipsen damit dieselben Bilder wie zuvor - nur etwas bequemer.

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Zitat des Tages: Vergiftet

Senator Clinton was one of the first people to realize that the air was toxic.

"Senatorin Clinton war eine von den ersten Menschen, die erkannten, daß die Luft vergiftet ist". Aus einem Werbespot für die Kandidatin Clinton, zitiert von Dana Milbank in der Washington Post.

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Marginalie: Was steht wirklich in Castros Brief?

"Castro nimmt Abschied von der Macht", titelt die FAZ; und ähnlich lauteten gestern die Meldungen in nahezu allen Medien.

Diese Meldungen beziehen sich auf einen Brief, den Fidel Castro zur Verlesung in der montäglichen Talk- Show Mesa Redonda geschickt hat; einer Show, die auch von CubaVision übertragen wird und in der ich oft Castro als Gast seine Monologe habe halten sehen.

Was steht in diesem Brief? Geht man nach dem englischen Dienst der cubanischen Nachrichten- Agentur Prensa Latina, dann ist sein einziges Thema die Klimakonferenz von Bali. Unter der Überschrift "Fidel Castro Stresses Climate Change Accords" (Fidel Castro hebt die Vereinbarungen zum Klimawandel hervor) wird über Castros Sicht auf diese Konferenz berichtet:
The statesman emphasized that several heads of Third World governments fighting for their development met in that small Indonesian island to demand of the industrialized nations' delegates: equal treatment, financial resources and transference of technologies. (...)

Fidel Castro noted that after 12 days of vain persuasive efforts, US representative Paula Drobransky, sighing deeply, declared: "We join the agreement."

"It is obvious," the Cuban president said, "that the United States maneuvered to get around its isolation, although it absolutely did not change the empire's sinister intentions."

Der Staatsmann hob hervor, daß etliche Regierungs- Chefs der Dritten Welt, die für ihre Entwicklung kämpfen, sich auf dieser kleinen indonesischen Insel trafen, um von den Delegierten der industrialisierten Nationen dies zu verlangen: Gleichbehandlung, finanzielle Mittel und den Transfer von Technologien. (...)

Fidel Castro wies darauf hin, daß nach 12 Tagen vergeblicher Überzeugungs- Versuche die Vertreterin der USA, Paula Drobransky, mit einem tiefen Seufzer erklärte: "Wir treten der Vereinbarung bei".

"Es ist offensichtlich", sagte der cubanische Präsident, "daß die Vereinigten Staaten manövrierten, um aus ihrer Isolation herauszukommen. Aber das hat in keiner Weise die finsteren Absichten des Imperiums verändert".
Es ist schon interessant, wie unterschiedlich man eine solche Konferenz betrachten kann. Aus Castros Sicht stand dort nicht das Weltklima im Mittelpunkt, sondern die Forderungen der "Dritten Welt". Und die Botschaft seines Briefs war es, davor zu warnen, in dem Entgegenkommen der USA eine Änderung der "finsteren Absichten des Imperiums" zu sehen.

So weit also war das die xte Variante dessen, was alle Reden Castros beinhalten: Die gute "Dritte Welt" (so heißt das bei ihm immer noch) gegen den imperialistischen Satan USA. Sein Lebensthema, die Obsession dieses Mannes.



Ja, aber wie kommen denn die Agenturen dazu, etwas über "Castros Abschied" in diesen Brief hineinzulegen?

Man findet kein Wort davon im englischsprachigen Dienst von Prensa Latina. Aber der spanische Dienst druckt den Brief ungekürzt ab.

Der Vergleich zeigt, daß der englischsprachige Dienst den Text korrekt zusammengefaßt hat - allerdings nur knapp die ersten beiden Drittel.

Von den 13 Absätzen des Briefs befassen sich die ersten 8 mit diesem Thema. Es folgen zwei Absätze, in denen Castro, wie er es immer tut, noch einmal auf die USA losgeht.

Und dann die letzten drei Absätze mit einem neuen Thema:
Mi más profunda convicción es que las respuestas a los problemas actuales de la sociedad cubana (...) requieren más variantes de respuesta para cada problema concreto que las contenidas en un tablero de ajedrez. Ni un solo detalle se puede ignorar, y no se trata de un camino fácil, si es que la inteligencia del ser humano en una sociedad revolucionaria ha de prevalecer sobre sus instintos.

Mi deber elemental no es aferrarme a cargos, ni mucho menos obstruir el paso a personas más jóvenes, sino aportar experiencias e ideas cuyo modesto valor proviene de la época excepcional que me tocó vivir.

Pienso como Niemeyer que hay que ser consecuente hasta el final.

Es ist meine tiefste Überzeugung, daß die Antworten auf die gegenwärtigen Probleme der cubanischen Gesellschaft (...) mehr unterschiedliche Varianten für jedes konkrete Problem verlangen als diejenigen, die es auf einem Schachbrett gibt. Kein einziges Detail darf übersehen werden, und es handelt sich nicht um einen leichten Weg, wenn es so ist, daß die Intelligenz des menschlichen Seins in einer revolutionären Gesellschaft über seine Instinkte siegen muß.

Meine elementare Pflicht ist es nicht, an Lasten festzuhalten, und noch viel weniger, jüngeren Personen im Weg zu stehen, sondern Erfahrungen und Ideen beizutragen, deren bescheidener Wert sich von der außerordentlichen Epoche herleitet, die mein Leben ausmachte.

Ich glaube wie Niemeyer, daß man bis zum Ende konsequent sein muß.

Rechtfertigt das Schlagzeilen wie "Castro spricht von Rücktritt" ("Spiegel Online")?

Was an dem Brief, wenn man ihn zur Gänze liest, vor allem auffällt, das ist die Dichte der Fakten und Zahlen, die Castro - wie es seine Art ist - in diesem kurzen Text unterbringt.

Er will damit, wie immer, Kompetenz signalisieren. Er will seinen Untertanen zeigen, daß er alles durchschaut und alles im Griff hat. Das tut man nicht unbedingt in einem Brief, in dem man seinen Rücktritt ankündigt.

Im kommenden Jahr wird in Cuba der Präsident gewählt. Daß Castro dann noch einmal antritt, ist nie wahrscheinlich gewesen. Ein Rücktritt ist das nicht, wenn er als schwerkranker dann 82jähriger sich nicht mehr zur Wahl stellt.

Was der Brief wirklich zeigt, das ist Castros Entschlossenheit, auch über diesen Termin hinaus noch "bis zum Ende konsequent" zu sein. Sich also gerade nicht aufs Altenteil zurückzuziehen.

Wie er sich das vorstellt, das deutet er an, wenn er von "Jüngeren" spricht, denen er nicht im Weg stehen will. Sein Bruder Raul, der jetzt die Geschäfte führt, ist nicht viel jünger als er. Auch die sonstigen Machtpositionen im Partei- und Staatsapparat sind, wie in jeder kommunistischen Dikatur, mit Revolutionären besetzt, die mit der Revolution alt geworden sind, aber nicht von der Macht lassen können.

Wen also meint Castro mit "Jüngeren"?

Ich habe da eine Vermutung. Hugo Chávez, der im Oktober so durch Cuba reiste, als sei er bereits der Präsident einer Union aus Venezuela und Cuba, wird nächstes Jahr 54.

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