31. August 2007

Anmerkungen zur Sprache (5): Genera und Numeri

Welchen Geschlechtes jemand ist, das wissen wir meist oder haben jedenfalls ein intuitives Verständnis davon. Auch ob etwas ein Einziges ist oder Mehreres, ist uns in der Regel bewußt.

Mehrzahl und Einzahl (die Numeri) und männlich, weiblich, sächlich (die Genera) sind aber auch grammatische Kategorien. Und da ist es mit unserer Intuition oft nicht weit her, da sind wir mit unserem Latein nicht selten am Ende.



Warum haben Wörter überhaupt ein "Geschlecht"? Erstens trivialerweise, weil sie Objekte bezeichnen, die ihrerseits ein Geschlecht haben: Der Mann. Die Frau. Die Tochter. Der Sohn. Der Onkel. Die Tante. Der Bulle. Die Sau.

Freilich, schon bei diesen Objekten mit einem "natürlichen Geschlecht" gibt es Probleme mit dem "grammatischen Geschlecht".

"Das Fräulein" seligen Angedenkens ist im natürlichen Geschlecht weiblich, im grammatischen sächlich. Wir Schulkinder haben das selbstherrlich verbessert. "Frollein" war zu meiner Grundschulzeit sozusagen die Berufsbezeichnung für die Lehrerin (wie auch der Rufname für weibliche Bedienung in den Lokalen). Wir nannten unsere Lehrerin aber nicht "das Fräulein", sondern "die Frollein".

Und sprachen Sätze wie "Unsere Frollein ist aber arg streng".

Im Deutschen wimmelt es nur so von solchen Diskrepanzen zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht. "Das Mädchen" ist ein besonders drastisches Beispiel; natürlich dem Diminuitiv geschuldet (ohne den wäre es "die Maid").

Bei Tieren sehen wir durchweg großzügig über das natürliche Geschlecht hinweg. Auch der männliche Löwe ist "eine Raubkatze", auch der Mäuserich "eine Maus". "Das Pferd" kann eine Stute oder ein Hengst sein. Wir haben als Kinder gelernt, daß es "der Hahn" heißt, aber seltsamerweise nicht "die Huhn".

Wenn "ein Vogel geflogen kommt", dann kann es sich um einen Spatzen handeln oder eine Meise, eine Amsel oder einen Finken. Und jedes dieser mal grammatisch männlichen, mal grammatisch weiblichen Tiere kann im natürlichen Geschlecht männlich oder weiblich sein.

Aus dem grammatischen Geschlecht kann man also keineswegs auf das natürliche Geschlecht schließen. Die sogenannte "feministische Linguistik" (ja, es gibt sie!) hat das mit sozusagen festgezurrten Scheuklappen ignoriert und darauf bestanden, daß eine Frau nicht "der Minister" oder "ein Professor" sein kann. (Teilweise ging das so weit, daß weibliche Professoren ihren Titel so abkürzten: "Prof'in Dr. XYZ").

Von einem Mann zu sagen, er sei "die Kapazität" auf seinem Gebiet, oder "eine Autorität" auf demselben, das haben die feministischen Linguistinnen allerdings meines Wissens bisher nicht beanstandet.

Die Briefbögen von Behörden, von Universitäten usw. trugen traditionell Bezeichnungen wie "Der Minister", "Der Regierungspräsident", "Der Rektor". Vor der Zeit der feministischen Linguistik kam niemand auf den Gedanken, daß der Empfänger eines solchen Briefs Post vom Minister oder dem Rektor persönlich bekommt, also von einer Person mit einem natürlichen Geschlecht. Sondern es schrieb eben die Universität, das Ministerium..

Aber den feministischen Linguistinnen war das ein Dorn im Auge. Heutzutage müssen fast überall diese Briefköpfe jedesmal ausgetauscht werden, wenn die Leitung einer solchen Insitution von einem Mann auf eine Frau übergeht, oder umgekehrt.

In Frankreich hat sich die Gleichstellung auf der Kabinetts- Ebene erst kürzlich vollzogen. Lange schrieb man noch "Madame le ministre", ohne sich Böses dabei zu denken. Neuerdings heißt es "Madame la ministre". Aber nicht immer: Eine amtierende Ministerin Sarkozys, die Finanzministerin Christine Lagarde, hat bei ihrer Amtsübernahme ausdrücklich angeordnet, sie "Madame le ministre" zu nennen - aus Respekt vor der französischen Grammatik, wie sie zur Begründung äußerte.



Wenn wir die Welt der geschlechtlichen Wesen verlassen, die des Belebten überhaupt, und in die der unbelebten Objekte eintreten, dann verschwindet das natürliche Geschlecht, nicht aber das grammatische. Unsere Sprache zwingt uns - ein animistischer Atavismus? - dazu, jedem Gegenstand ein Geschlecht zu verleihen; sei es so etwas Erhabenes wie die Natur oder etwas so Verächtliches wie der Bandwurm.

Was da männlich ist, was weiblich, was ein Neutrum - das haben sprachgeschichtliche Zufälle bestimmt. Wir benutzen das grammatische Geschlecht, ohne uns etwas dabei zu denken. "Der" Schmetterling verbindet sich für uns nicht mit Männlichkeit; so wenig, wie "die" Dampframme mit Weiblichkeit.

Man hat darüber philosophiert, warum bestimmte Objekte in der einen Sprache männliche Namen haben und in der anderen weibliche. Zum Beispiel, so wird behauptet, heiße es "die" Sonne im Deutschen und analog in den germanischen Sprachen, weil im Norden die Sonne den Menschen wohl tue. "Le" soleil, "el" sol usw. heiße es hingegen in den romanischen Sprachen, weil im Süden die Sonne erbarmungslos vom Himmel brenne.

Nun ja. Dann heißt es vermutlich auch im Deutschen "der" Turm, weil der Turm für den Deutschen das Symbol männlicher Stärke ist. Und im Französischen heißt es "la" tour, weil die Franzosen in ihm das Schützende, Bergende sehen. Nicht wahr?

Nein, nicht wahr. Das ist Kaffeesatz- Leserei, Dahergerede.

Verlassen wir die trüben Niederungen solcher Gedanken- Gaukeleien und wenden wir uns etwas Spannenderem zu: Den Fehlern, die sich einstellen, wenn wir von einer Sprache in die andere wechseln.



"La tour" ist ein Beispiel. Das heißt, wie gesagt, "der Turm". Es gibt auch "le tour", und das heißt - unter anderem - "die Rundfahrt". Wir müßten also korrekterweise von "dem" Tour de France sprechen.

So, wie "Am Tag, als der Regen kam" eigentlich "eine" Chanson ist und nicht "ein"; denn "chanson" ist im Französischen weiblich. Ebenso wie das Wort für "Bahnhof", "la gare". Man kommt also, wenn man von Brüssel nach Paris fährt, an "der" Gare du Nord" an, nicht an "dem".

Beckmessereien? Ja, gewiß. Die Sprache kümmert sich selten um derartige Regularien, sondern sie richtet sich nach Analogien, nach Ähnlichkeiten. Sie assimiliert hier das grammatische Geschlecht des französischen Worts an das seines deutschen Pendants.

Sie tut das gern auch bei Fremdwörtern, die, indem sie in einer Sprache heimisch werden, dort auch schon einmal eine Geschlechts- Umwandlung erfahren.

"Die Tour" beispielsweise gelangte, so informiert uns das Grimm'sche Wörterbuch, "mit Geschlechtswechsel" Ende des 17. Jahrhunderts ins Deutsche. Warum dieser Wechsel stattfand, darüber darf man spekulieren - die sinnverwandten deutschen Wörter "Reise", "Wanderung", "Fahrt", "Rundfahrt" sind jedenfalls allesamt weiblich.

Da mag also eine Assimilation stattgefunden haben. Ähnlich wie bei "Chanson", wo das Lied, der Schlager, der Gesang die Weichen in Richtung Maskulinum gestellt haben könnten.



Ähnlichkeiten, Analogien, Assimilationen - die spielen wohl auch bei den den Numeri eine Rolle. Wie derjenige der Genera ist ihr Gebrauch manchmal mehr durch durch derartige Faktoren bestimmt als durch die Regeln der Grammatik. Wir verallgemeinern, übertragen, passen an, statt uns an formale Regeln zu halten. Genau wie Kleinkinder, wenn sie das Sprechen erlernen. Ganz ohne Grammatik zu pauken.

Manche Wörter "klingen" sozusagen nach Einzahl oder nach Mehrzahl. "Keks" zum Beispiel ist das eingedeutschte "Cakes", also Plural. Aber es klingt in deutschen Ohren nach Singular, vielleicht in Anlehnung an Wörter wie "Fuchs" und "Dachs". Also wurde es zum Singular, und wenn's mehrere sind, dann sagen wir "Kekse".

Von manchen Wörtern aus anderen Sprachen begegnet uns überhaupt fast nur der Plural. "Taliban" zum Beispiel. Das ist folglich im Begriff, zum Singular zu werden; "Jeder Mann ein Taliban" titelte unlängst sogar das Intelligenz- Magazin "Cicero".

Auch das lateinische und griechische Neutrum Plural gerät leicht in Gefahr, als Femininum Singular mißerstanden zu werden. "Allotria" zum Beispiel, "Qualia".

Ähnlich ist es übrigens auch im Englischen. In der wissenschaftlichen Literatur hat es sich fast schon durchgesetzt, "data" im Singular zu verwenden. Eben habe ich "data was recorded" in Google eingegeben: Rund 222 000 Fundstellen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.

30. August 2007

Zettels Meckerecke: "Es gibt eine Verschwörung der amerikanischen Regierung". Über eine angekündigte ZDF-Sendung

Es wird September. Wie alljährlich seit 2001 ist das nicht nur der Monat, in dem die Blätter zu fallen beginnen, sondern auch der, in dem die Verschwörungstheorien erblühen.

Verschwörungstheorien sind eine moderne Variante des Gerüchts. Gerüchte, so sagt es die einschlägige Forschung, entstehen, wenn erstens ein Thema wichtig ist, wenn es emotional bewegt. Und wenn zweitens zu diesem Thema die Informationen unzulänglich sind. Die US-Forschung hat das in den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts anhand von Kriegs- Gerüchten untersucht.

Die Angriffe des 11. September 2001 erfüllten beide Kriterien. Also schossen die Verschwörungstheorien aus dem Boden wie Pilze nach einem warmen Regen. Sie hatten eine kurze Konjunktur, bevor sie Punkt für Punkt widerlegt wurden. Keines dieser teilweise ans Paranoide grenzenden Gerüchte hält einer Überprüfung statt.

Und überprüft wurden sie - so gründlich, wie das nur geht.

Hier ist eine Linkliste zu den Widerlegungen. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Argumente ist die von Mike Williams. Es gibt sogar eine Zeitschrift, die sich allein der Entlarvung der Gerüchte widmet, die über 9/11 in die Welt gesetzt wurden.

Und die offizielle Version ist andererseits durch eine überwältigende Fülle an Fakten belegt.



Kurzum, der Fall ist geschlossen. Was in den Monaten nach dem 11. September 2001 noch möglich war - die Informationslücken durch Spekulationen auszufüllen - ist vorbei: Es gibt so gut wie keine Informationslücken mehr. Der Ablauf ist aufgeklärt, die Schuldigen sind bekannt.



Nur nicht der Redaktion des ZDF. Diese hat tatsächlich die Stirn, für den kommenden 11. September die Sendung des ZDF-Mitarbeiters Renz und eines englischen Koautors anzukündigen, die hier vorgestellt wird. Auszüge aus der Ankündigung:
Es gibt mehr als 50 Verschwörungstheorien, die sich mit dem Anschlag beschäftigen, der vor sechs Jahren die Welt erschütterte. 'Diese Diskussion läuft sehr häufig abseits der etablierten Medien im Internet ab', erklärt Renz. Doch die Fragen und Zweifel, die dort geäußert werden, seien keinesfalls völlig aus der Luft gegriffen.
Und dann folgt die ganze Litanei der längst widerlegten "Zweifel":
Warum schaffte es niemand, die vier Flugzeuge abzufangen und gegebenenfalls abzuschießen? Wo sind die Trümmerteile an der Absturzstelle in Shanksville, Pennsylvania? Passt ein Flugzeug überhaupt in das verhältnismäßig kleine Loch im Pentagon? Wurde das World Trade Center in Wahrheit gesprengt? Dienten die Flugzeuge nur zur Ablenkung?
Und so weiter, die ganze ausgeleierte Gebetsmühle, die sich seit sechs Jahren dreht. Fazit des Reporters Renz: "Je tiefer man bohrt, auf umso mehr Fragezeichen stößt man."

Hat er irgendwas herausgefunden, der Reporter Renz, das nicht längst behauptet und widerlegt wurde? Hat er irgend einen neuen Beleg für eine Verschwörung? Die Ankündigung liefert dafür keinen Anhaltspunkt.

Doch, einen hat er, der Reporter Renz: "'Wir erwarteten, dass uns die Regierung unter die Arme greifen würde, denn wir wollten mit unseren Recherchen ja viele der kursierenden Verschwörungstheorien aus der Welt schaffen', erinnert sich der Reporter. 'Von wegen! Man hat uns jede Tür nicht nur vor der Nase zugeschlagen, sondern auf die Nase draufgehauen.'" Also, meint er, "... halte die amerikanische Regierung der Öffentlichkeit tatsächlich sehr viele Informationen vor. 'Wir fragen uns warum?'"

Mit anderen Worten, die US-Behörden sahen keinen Anlaß, einem deutschen TV-Reporter, der längst widerlegten "Theorien" nachforschen will, "unter die Arme zu greifen".

Was natürlich den Schluß rechtfertigt: "'Es gibt eine Verschwörung der amerikanischen Regierung nach dem 11. September', sagt ZDF-Reporter Michael Renz."



Mit Dank an Luclog, durch den ich auf die Sendung aufmerksam geworden bin.

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Gedankens Blässe, Bloggers Bemühen. Oder: On going beyond the information given

"Ein Jude kommt zum Rabbi und führt Klage gegen seinen betrügerischen Lieferanten. Der Rabbi hört aufmerksam zu und erklärt dann: 'Du hast recht'. Bald danach kommt der beschuldigte Lieferant und klagt seinerseits über den Ankläger. Der Rabbi hört wieder aufmerksam zu und sagt abermals: 'Du hast recht'. Die Frau des Rabbiners hat beide Entscheide mit angehört, und als der Lieferant weggegangen ist, sagt sie vorwurfsvoll zu ihrem Manne: 'Es können doch niemals beide recht haben!' Da gibt der Rabbi zu: 'Du hast auch recht.'"

So erzählt Salcia Landmann diesen jüdischen Witz, den ich - glaube ich - auch bei Freud gelesen habe. Es ist mein zweitliebster jüdischer Witz. (Na gut, der liebste: "Hast du gehört, unser Rabbi sagt, er spricht mit Gott" - "Ach was, da sagt der Rabbi die Unwahrheit" - "Kann nicht sein - würde Gott mit einem Lügner reden?").

Der Rabbi in dem ersten Witz ist nicht nur ein gerechter, sondern auch ein weiser Mann. Er weiß, daß jede Sache viele Seiten hat. Er ist ein Rabbi, der, wie jeder Rabbi, "klärt" - also nachdenkt - , ohne dadurch unbedingt zur Klarheit zu kommen. Auch das Klären kann zu dem Ergebnis führen, daß da etwas opak ist und es bleibt, so sehr man auch den Durchblick sucht.



Als ich vor ein paar Monaten in Paris war, habe ich in meiner Stammkneipe einen interessanten Mann getroffen.

Ich unterhielt mich mit einem in Paris lebenden Engländer über dies und jenes, wie man es eben nach dem einen oder anderen Glas Saint Pourçain tut - über Physik (der Amerikaner war Physiker), Neurologie, Künstliche Intelligenz; alles ins "bedeutend Allgemeine" gewendet, wie es die nächtliche Bistrot- Gestimmtheit mit sich bringt.

Jener andere Gast schien interessiert zuzuhören, hatte aber anscheinend Schwierigkeiten, unserem auf englisch geführten Gespräch zu folgen. Ich fragte ihn, ob wir ins Französische wechseln sollten. Ja, das wäre schön, sagte er.

Ich dachte, daß er sich jetzt am Gespräch beteiligen würde. Das tat er aber nicht, obwohl er jetzt mit noch größerer Aufmerksamkeit zuhörte

Ich fragte ihn, warum er so schweigsam sei. Seine verblüffende Antwort: Das alles interessiere ihn sehr. Er kenne sich auch ganz gut aus (was wohl stimmte; er entpuppte sich als Informatiker mit vielen Interessen). Aber, sagte er - er habe zu keinem der Themen, über die wir uns unterhielten, eine Meinung. Wenn der Physiker etwas sage, dann leuchte ihm das ein. Wenn ich diesem eine andere Meinung entgegenstelle - ja, auch das leuchte ihm sehr ein.

So sei er, sagte dieser Thekengenosse, immer gewesen: Er sei an vielem interessiert, lese sehr viel. Aber eine Meinung - nein, die habe er noch nie gehabt. Wie käme er dazu? Es gebe doch offensichtlich gute Argumente für alles und auch für das Gegenteil.

Er sei auch noch nie zur Wahl gegangen. Alle Parteien hätten doch gute Gründe für das, was sie propagierten.

Es gebe keine Kunst, keine Musik, die er bevorzuge. Er fände das alles sehr schön, wieso er sich denn da festlegen solle?

Er gehöre auch keiner Religion an. Aber Atheist - bewahre, das sei er nicht. Wie käme er dazu, das zu entscheiden, worüber sich die größten Gelehren nicht einig werden könnten?

Ich fragte ihn, wie er denn zu seinem Beruf gekommen sei. Nun ja, da sei er so hineingerutscht. Und er habe eine Stelle, die ihm, dem Junggesellen, sein Auskommen sichere; bei einer staatlichen Gesellschaft. Auf den Gedanken, einen besser bezahlten Job anzustreben, sei er nie gekommen.

Er habe mal diese, mal jene Freundin - aber heiraten, Kinder bekommen, das sei für ihn nie eine Perspektive gewesen.

Er machte einen fröhlichen, einen ausgeglichenen, ja fast einen weisen Eindruck, dieser Mann ohne Überzeugungen; nennen wir ihn Candide.

Und im Lauf des länger werdenden Abends merkte ich, wie der Physiker und ich in unseren Dialogen um die Gunst dieses stillen Weisen buhlten; wie wir scheinbar einander, in Wahrheit aber Candide ansprachen.



Wenn man es recht bedenkt, dann ist die Position Candides die einzige wirklich vertretbare.

Wenn jemand sich zu einer Meinung versteht, dann zeigt das, so könnte man überspitzt sagen, daß er nicht genug von der Sache versteht. Würde er die Sache von allen ihren Seiten kennen und alle diese Seiten würdigen können, dann müßte er zur Haltung des Rabbis, zur Haltung Candides gelangen.

Nur wäre er dann natürlich "lost in thought" - nicht nur ins Denken, in Gedanken verloren, sondern mit seinem Denken überhaupt verloren. Denn er könnte ja nicht handeln.



Hamlet - so hat man das interpretiert - denkt und überlegt und zweifelt, um nicht handeln zu müssen - "sicklied o'er with the pale cast of thought". "Der angebornen Farbe der Entschließung wird des Gedankens Blässe angekränkelt" hat Schlegel diese Passage übersetzt.

Um handeln zu können, müssen wir über das hinausgehen, was wir sicher wissen. Selbst unser Wahrnehmungsapparat verfährt nach diesem Prinzip, im Dienst unseres Handelns. Wir können eine mehrdeutige Figur auf die eine oder die andere Art sehen - aber nie können wir beide Versionen zugleich sehen. Unser Gehirn ist da rigider als der Rabbi in dem Witz und als mein Bekannter Candide.

Auch Wissenschaftler müssen in dieser Weise über das hinausgehen, was sie eigentlich wissen. Wenn man Daten erhoben hat und sie publizieren will, muß man sie in der Regel auch interpretieren. Man muß sich für eine Deutung, für eine Theorie entscheiden. Obwohl man natürlich meist weiß, daß man dieselben Daten auch anders interpretieren kann.

Manchmal diskutiert man diese alternativen Interpretationen. Aber meist nur, um zu sagen, warum man sie weniger plausibel findet als die eigene. Wohl wissend, daß die nicht weniger intelligente und belesene Kollegin X mit ebenso guten Gründen eine dieser alternativen Deutungen vertreten wird; man ahnt schon den Artikel, den sie schreiben wird.



"On going beyond the information given", hieß ein berühmter Aufsatz, den Jerome S. Bruner, einer der Mitbegründer der kognitiven Neurowissenschaft, vor genau einem halben Jahrhundert publizierte.

Freilich ist es vom Kontext abhängig, wie weit man über die gegebene Information hinausgeht. Solange man rezeptiv bleibt, braucht man das kaum. Man kann dies bedenken, jenes; man kann die eine wie die andere Seite sehen, gleich dem Rabbi.

Sobald man zu produzieren beginnt, wird das schwierig. Das gilt auch für das Produzieren von Texten.

Schreiben ist ja auch Handeln. Wie immer, wenn man handelt, muß man Entscheidungen treffen. Das Material selegieren, einen roten Faden finden, eine message oft auch.

Man muß oft Einwände ausklammern, wenn man eine Argumentation überzeugend vortragen will. Man muß Farbe bekennen, Position beziehen. Nichts ist mühsamer zu lesen als der Text eines Autors, der sich sozusagen selbst ständig ins Wort fällt. Der uns statt eines roten Fadens Patchwork bietet. Der uns nicht das geordnete Ergebnis seines Überlegens mitteilt, sondern dessen krausen Verlauf.



Mir geht es oft so, daß ich zunächst zu einem Thema keine Meinung habe. Bei politischen Themen liegt das manchmal daran, daß der Konservative und der Liberale in mir sich einig werden müssen. Oder ich kenne die Fakten nicht (wie beispielsweise beim aktuellen Fall Mügeln, zu dem ich mich deshalb bisher nicht geäußert habe). Oder ich habe mir über das betreffende Thema schlicht noch zu wenig Gedanken gemacht. Dann bin ich sozusagen noch im unschuldigen Stand des Rabbis in dem Witz.

Dann entsteht die Idee für einen Blog-Beitrag. Ich möchte dort eine deutliche Meinung vertreten; diejenige, für die ich mich am Ende entschieden habe. Also rücken die Argumente für diese Meinung in den Vordergrund. Also klammere ich Einwände aus oder versuche sie zu widerlegen.

Das mag manchmal als Einseitigkeit erscheinen. So, wie es heute Libero erschienen ist, dessen kluger, mich sanft tadelnder Beitrag in "Zettels kleinem Zimmer" mich angeregt hat, die jetzigen Überlegungen anzustellen.

Und sie einseitig, an einem roten Faden aufgereiht, argumentativ zugespitzt, in die Form dieses Essays zu befördern.

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Randbemerkung: Kinderarbeit in Kambodscha

In den deutschen Medien habe ich es nicht gefunden, aber der "Nouvel Observateur" hat seit heute Mittag die Meldung: Eine kambodschanische Menschenrechts- Organisation, LICADHO, hat gestern einen Bericht über ihre Kampagne gegen die Kinderarbeit in Kambodscha vorgelegt.

Kambodscha? Eines dieser Länder, die bis in die sechziger Jahre so gut wie unbekannt gewesen waren, die dann für zwei Jahrzehnte - während des Vietnam-Kriegs, während und unmittelbar nach der Schreckensherrschaft der Khmer Rouge - im Fokus weltweiter Aufmerksamkeit standen und die danach wieder in den unbeleuchteten Hintergrund der Weltbühne verschwanden.

Als ich kürzlich etwas über politische Prozesse in Kambodscha gelesen habe und das hier kommentieren wollte, mußte ich erst einmal nachsehen, wie dort im Augenblick die politische Situation ist.

Also - so entnehme ich es der Wikipedia - : Nachdem die Vietnamesen 1978 durch ihren Einmarsch dem Schreckensregime der Khmer Rouge ein Ende gemacht hatten, begann eine Zeit des Bürgerkriegs; denn die Khmer Rouge gaben sich den Vietnamesen nicht geschlagen und kämpften als Guerrilleros weiter.

Das ging bis Ende der achtziger Jahre; erst 1991 trat ein von der UNO vermittelter Friedensvertrag in Kraft. Seit 1993 gibt es eine demokratische Verfassung, die aber - so sagen es jedenfalls Oppositionelle - keineswegs den dominierenden Einfluß der kommunistischen Herrenschicht gebrochen hat. Das Land wird von Transparency International als eines der korruptesten der Welt eingestuft.



Die LICADHO ist eine kambodschanische Menschenrechts- Organisation, die 1993 gegründet wurde; mit dem Ziel, die Einhaltung der Menschenrechte zu fördern, Menschenrechts- Verletzungen zu dokumentieren, politisch Verfolgte zu unterstützen und vor allem für die Rechte von Frauen und Kindern einzutreten.

In dem gestern publizierten Bericht wird auf Aktionen hingewiesen, die LICADHO gegenwärtig in Kambodscha unternimmt, um auf das Problem der Kinderarbeit aufmerksam zu machen. Die Zahl der betroffenen Kinder wird auf über 1,5 Millionen (bei einer Bevölkerung von ungefähr 14 Millionen) geschätzt. Ungefähr eine Viertel Million Kinder arbeiten unter schwersten Bedingungen in Ziegel- Brennereien, Bordellen, Minen und in der Herstellung von Drogen.

Die Pressemitteilung enthält hauptsächlich Informationen über die einschlägigen Aktivitäten von LICADHO wie Demonstrationen und Kundgebungen sowie über die juristische Lage in Kambodscha, was Kinderarbeit angeht.

Weiterhin werden werden zwei Fälle aus diesem Jahr dokumentiert:
  • Ein 14jähriges Mädchen verlor bei der Arbeit in einer Ziegelbrennerei einen Arm, als es eine Maschine bediente. Es war von seinem Vater zur Arbeit in dieser Fabrik geschickt worden, weil dieser bei der Fabrik mit einer Million Riel (250 Dollar) verschuldet war. Das Kind mußte die Schule aufgeben, um die Schuld abzuarbeiten.

  • Ein 13jähriger Junge verlor vier Finger, als er eine Maschine zu bedienen versuchte. Es war sein erster Arbeitstag in der Ziegelfabrik, in der er arbeiten wollte, um sich das Geld für ein Fahrrad zu verdienen. Dieses brauchte er, um die weit von seiner Wohnung entfernte Schule besuchen zu können.
  • Man darf vermuten, daß diese Fälle nur deshalb aktenkundig geworden sind, weil die beiden Kinder Opfer von Arbeitsunfällen waren.



    Die Zahl der Opfer von Kinderarbeit weltweit wird von der UNICEF auf 218 Millionen geschätzt. Nicht eingerechnet die Kinder, die im Haushalt, im Geschäft der eigenen Familie arbeiten müssen. Nicht eingerechnet vermutlich die Kindersoldaten in Afrika.



    Karl Marx übrigens war ein Befürworter der Kinderarbeit:
    Allgemeines Verbot der Kinderarbeit ist unverträglich mit der Existenz der großen Industrie und daher leerer frommer Wunsch. Durchführung desselben – wenn möglich – wäre reaktionär, da, bei strenger Regelung der Arbeitszeit nach den verschiednen Altersstufen und sonstigen Vorsichtsmaßregeln zum Schutz der Kinder, frühzeitige Verbindung produktiver Arbeit mit Unterricht eines der mächtigsten Umwandlungsmittel der heutigen Gesellschaft ist.
    Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms. Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei (1875)

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    29. August 2007

    Marginalie: "Rußland, unser heiliger Staat ..."

    Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich bei Sportübertragungen zur Siegerehrung gern wegzappe - jedenfalls fiel mir erst heute etwas auf, was mir seit fast sieben Jahren hätte auffallen müssen:

    Da hatte in Osaka eine russische Athletin eine Goldmedaille gewonnen, und also ertönte bei der Siegerehrung die russische Nationalhymne.

    Die russische? Teufel, das war doch die sowjetische! Die ich gut ihm Ohr habe, weil Radio Moskau, das ich früher gern über Kurzwelle gehört habe, sie ständig spielte; ich glaube, sogar als Pausenzeichen.

    Hatten die Russen tatsächlich die Nationalhymne der Kommunisten übernommen? Nicht ganz, zeigte ein Blick in die Wikipedia.

    Mit dem Untergang der Sowjetunion war sie 1990 abgeschafft und durch das Vaterlands-Lied ersetzt worden.

    Aber Ende 2000 wurde die Sowjet-Hymne wieder eingeführt, freilich mit einem entschärften Text, in dem z.B. das Lob Lenins fehlte. Aber immerhin - es ist weiter die Hymne, die 1944 unter Stalin eingeführt wurde. Sogar der aktuelle Text stammt von demselben Autor, der auch an der Stalin- Version mitgeschrieben hatte.

    Und wer hat's angeordnet? Putin natürlich.

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    Marginalie: In den USA wächst die Armut. Oder etwa nicht?

    In den USA legt das Census Bureau - vergleichbar unserem Statistischen Bundesamt - jährlich einen Bericht über die Entwicklung der Einkommen, der Armut, der Krankenversicherungen vor. Gestern ist der Bericht für das Jahr 2006 erschienen. Die Agenturen berichten darüber in den USA seit dem Abend (deutsche Zeit); zum Beispiel Reuters.

    Positives und Negatives halten sich in dem Bericht ungefähr die Waage:
  • Zum ersten Mal in diesem Jahrzehnt ist der Prozentsatz der Armen gesunken, von 12,6 Prozent im Jahr 2005 auf jetzt 12,3 Prozent.

  • Zum zweiten Mal nacheinander ist das Durchschnitts- Einkommen der Haushalte gestiegen. (Der Kennwert ist der Median, nicht das artithmetische Mittel; der Anstieg geht also nicht allein auf die hohen Einkommen zurück).

  • Dies beruht nicht auf höheren Gehältern, sondern darauf, daß mehr Menschen pro Haushalt Jobs haben.

  • Die Einkommen sind (inflationsbereinigt) aber immer noch niedriger als in dem Spitzenjahr 2000.

  • Der Prozentsatz der Amerikaner ohne Krankenversicherung ist gestiegen, weil weniger Unternehmen die Versicherung für ihre Arbeitnehmer übernehmen.
  • Also: Es gibt erfreuliche und unerfreuliche Aspekte der Entwicklungen von 2005 auf 2006, die dieser Bericht des Census Bureau dokumentiert.

    Die verlinkte Meldung von Reuters wird dem mit ihrer Überschrift gerecht: "Poverty rate down but fewer have health insurance" - Prozentsatz der Armen gesunken, aber weniger haben eine Krankenversicherung.



    Nun bin ich sehr gespannt, wie am Mittwoch die Meldungen in den deutschen Medien aussehen werden.

    Wieviele werden, wie Reuters, in der Überschrift Positives und Negatives bringen?

    Wieviele werden nur Negatives in die Überschrift stellen? (Sagen wir: "Mehr Amerikaner ohne Krankenversicherung"; "Einkommen in den USA niedriger als im Jahr 2000"; "Jeder achte Amerikaner ist arm").

    Und wieviele werden spiegelbildlich dazu positive Überschriften bringen? ("Armut in den USA gesunken"; "Einkommen in den USA erneut gestiegen")?



    Zum Thema "Armut" gab es letztes Jahr hier eine Serie, deren einzelne Folgen über Links in Zettels kleinem Zimmer zugänglich sind.

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    28. August 2007

    Randbemerkung: Sozialismus à la George W. Bush

    Zu dem propagandistisch geprägten Bild von Präsident Bush, das in Deutschland vorherrscht, gehört die Vorstellung, er sei ein "Präsident der Reichen".

    Tatsächlich hat kaum ein US-Präsident sich in der von ihm auf den Weg gebrachten Gesetzgebung so viel um sozial Benachteiligte gekümmert wie George W. Bush.

    Ein Kernstück seines innenpolitischen Programms war eine tiefgreifende Schulreform, die mit dem Schlagwort "No child left behind" bezeichnet wird; frei übersetzt: Kein Kind darf auf der Strecke bleiben.

    Das betreffende Gesetz wurde Ende 2001 vom Kongreß verabschiedet und von Bush im Januar 2002 unterzeichnet. Es sieht vor allem eine drastische Verbesserung der Qualität der Lehre in den Grundschulen vor (alle Lehrer müssen sich einer einheitlichen Prüfung unterziehen oder akademische Grade vorweisen) sowie eine Erfolgskontrolle aller Schulen durch einheitliche Tests. Gefördert werden sollen vor allem die schwächeren Schüler und die bisher weniger erfolgreichen Schulen; niemand - kein Kind, keine Schule - soll eben mehr auf der Strecke bleiben.

    Zur Erreichung dieser Ziele stellt das Federal Government erhebliche Geldmittel zur Verfügung; in der Größenordnung von 20 Milliarden Dollar pro Jahr.



    Erstaunlich, nicht wahr, für eine Regierung von Konservativen?

    Ja - aber leider nicht erstaunlich gut. Denn dieses Gesetz hatte das zur Folge, was Gesetze, die auf die Förderung der Benachteiligten abzielen, sehr oft zur Folge haben: Sie führen zu einer Benachteiligung der Begabten.

    Wie sehr das in den USA gegenwärtig im Gang ist, kann man in der gestrigen "Washington Post" in einem Artikel von Susan Goodkin und David G. Gold lesen:

    Die Schulen werden danach bewertet - und enthalten entsprechende Fördermittel -, wie gut sie es schaffen, die Leistungen schlechter Schüler zu verbessern. Die Leistungen der ohnehin guten Schüler bleiben hingegen weitgehend unberücksichtigt.

    Die Folge war nicht schwer vorherzusagen: Gute Schüler leiden unter diesem Programm. Folglich schicken deren Eltern, sofern sie es sich leisten können, sie zunehmend in Privatschulen:
    These parents are fleeing public schools not only because, as documented by a recent University of Chicago study, the act pushes teachers to ignore high-ability students through its exclusive focus on bringing students to minimum proficiency.

    Worse than this benign neglect, No Child forces a fundamental educational approach so inappropriate for high-ability students that it destroys their interest in learning, as school becomes an endless chain of basic lessons aimed at low-performing students.

    Diese Eltern entfliehen den staatlichen Schulen nicht nur deshalb, weil, wie es kürzliche eine Untersuchung der University of Chicago nachwies, dieses Gesetz die Lehrer dazu treibt, sich einseitig darauf zu konzentrieren, alle Schüler auf ein minimales Leistungsniveau zu bringen, wobei sie die begabten Schüler ignorieren.

    Schlimmer als diese freundliche Vernachlässigung ist es, daß das "No Child"-Gesetz einen grundsätzlichen pädagogischen Ansatz erzwingt, der so wenig für die hochbegabten Schüler geeignet ist, daß er ihr Interesse am Lernen vernichtet. Die Schule wird zu einer endlosen Kette von Lektionen im Grundwissen, die sich an die schlechten Schüler wenden.



    Das Gesetz ist, wie gesagt, wesentlich der persönlichen Initiative von Präsident Bush zu verdanken.

    Bush als ein Gleichmacher, dessen Programm um jeden Preis die schlechten Schüler fördert, auf Kosten der Begabten - eigentlich müßten diejenigen, deren Bild von Bush durch "Spiegel-Online" und dergleichen geprägt ist, sich jetzt ein wenig verwundert die Augen reiben.

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    27. August 2007

    Marginalie: Der Fall Politowskaja und Putins Kampf gegen Beresowski

    Der Moskauer Korrespondent von "Al Jazeera" meldete eben, daß nach Ansicht der russischen Staatsanwaltschaft die Spuren im Fall Politowskaja zu Boris Beresowski als dem Drahtzieher führten, der tschetschenische Killer angeheuert habe.

    Klingt abenteuerlich. Aber der "Guardian" brachte vor einer halben Stunde dieselbe Meldung:
    "As for the motives for the killing, the results of the investigation lead us to the conclusion that only individuals located outside the territory of the Russian Federation could have had an interest in getting rid of Politkovskaya," Chaika told a news conference. (...)

    They seek "a return to the former system of rule, under which money and oligarchs decided everything," he said.

    Chaika mentioned no names, but he appeared to be pointing the finger at least in part at Boris Berezovsky.

    "Was die Motive für den Mord angeht, kommen wir aufgrund der Ermittlungs- Ergebnisse zu dem Schluß, daß nur Personen, die sich außerhalb des Territoriums der Russischen Föderation aufhalten, ein Interesse daran gehabt haben können, Politkowskaja loszuwerden, sagte [General- Staatsanwalt] Tschaika auf einer Pressekonferenz. (...)

    Sie strebten eine "Rückkehr zu dem einstigen Herrschaftssystems an, unter dem das Geld und die Oligarchen alles bestimmten", sagte er.

    Tschaika nannte keine Namen, aber er schien mindestens zum Teil mit dem Finger auf Boris Berezovsky zu zeigen.
    Dazu paßt eine Meldung, die die russische Nachrichten- Agentur Novosti vor einer Stunde verbreitete. Darin heißt es:
    Russia's general prosecutor said Monday that fugitive tycoon Boris Berezovsky, wanted in Russia, could be extradited from the U.K. to Brazil, where he also faces a criminal probe. (...)

    Berezovsky, who lives as a political exile in Britain, is wanted on embezzlement and sedition charges in Russia. However, British authorities have repeatedly rejected Russian requests for his extradition.

    Der russische General- Staatsanwalt erklärte am Montag, daß der flüchtige Industrie- Magnat Boris Beresowski, gegen den in Rußland ein Haftbefehl vorliegt, von Großbritannien an Brasilien ausgeliefert werden könnte, wo ihn ein Strafverfahren erwartet. (...)

    Gegen Beresowski, der als politischer Exilant in Großbritannien lebt, laufen in Rußland Verfahren wegen Unterschlagung und Volksverhetzung. Die britischen Behörden haben jedoch Auslieferungs- Begehren wiederholt abgelehnt.

    Kommentar: Es scheint, daß Putin im Kampf gegen die verbliebenen "Oligarchen" - und, wie ich weiterhin vermute, in dem um seine Wiederwahl - eine neue Schlacht eröffnet.

    Beresowski, auf dem Umweg über Brasilien am Ende doch repatriiert und à la Chodorkowski im Käfig vor Gericht gestellt - welcher Wahlkampf- Knüller könnte das in einem halben Jahr sein!



    Übrigens sind sowohl Beresowski als auch Chodorkowski bekanntlich Juden. Der Feldzug, den Putin gegen die "Oligarchen" führt, trägt unverkennbar antisemitische Züge.

    Die Putin im Wahlkampf gewiß nicht schaden werden.

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    Marginalie: Hinrichtungen

    Aus der heutigen FAZ über Hinrichtungen im Iran:
    Allein zwischen dem 21. Juni und dem 21. Juli wurden 41 Menschen exekutiert. Am 15. Juli kam es in der nordwestiranischen Stadt Täbris zu öffentlichen Hinrichtungen, als man drei Personen henkte. Unter ihnen war eine Frau. (...)

    In der letzten Juliwoche kam es in der Hauptstadt Teheran zu 16 Hinrichtungen. Zwölf der Todesurteile wurden allein am 22. Juli im berüchtigten Evin-Gefängnis vollstreckt. Zwei der Hingerichteten, Fazel Ramazani und Hajat Morad Mohammadi, waren aus politischen Gründen seit acht Jahren inhaftiert
    Aus der FAZ vom vergangenen Mittwoch:
    Die Europäische Union hatte im Vorfeld gegen die Hinrichtung protestiert und die amerikanischen Behörden aufgefordert, die Vollstreckung von Todesurteilen auszusetzen.
    Ja, die amerikanischen. Denn die EU hat nicht etwa gegen die Orgie der Exekutionen im Iran protestiert, sondern gegen die Hinrichtung eines Amerikaners in Texas.

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    26. August 2007

    Zettels Meckerecke: Unsere letzten Autokraten. Der Fall Schlingensief und ein französischer Kommentar

    Wer hat heutzutage in einer Gesellschaft wie der unseren noch die Möglichkeit, nach Lust und Laune über Menschen zu bestimmen?

    Der Lehrer, der Professor, der Offizier, der "Halbgott in Weiß"; also die klassischen "Autoritäten"? Schon lange nicht mehr. Sie sind eingesponnen in Systeme von Vorschriften, von Gesetzen, von Kontrollen, die ihnen jeden Versuch zu autokratischem Verhalten gründlich vermiesen.

    Der Manager, der Unternehmer, der Abteilungsleiter? Ach was. Sie müssen den Gesetzen des Marktes gehorchen; und die verbieten jede Willkür. Auch im Umgang mit Untergebenen. Das würde das Arbeitsklima verschlechtern, also den Output, also den Profit. Unter Umständen würde es auch das Image des betreffenden Unternehmens schädigen, also wiederum seinen wirtschaftlichen Erfolg mindern.



    Nein - Willlkür, das herrische Verhalten des Mächtigen, der sich alles erlauben kann - das hat keinen Platz mehr in der heutigen freien Gesellschaft, im modernen Konkurrenz- Kapitalismus.

    Und doch - es gibt noch eine Oase der Willkür, ein Reservat für Autokraten, eine Insel der Selbstherrlichen: Die Tätigkeit des Theater- Regisseurs.

    Er, seine Majestät der Regisseur, hat nahezu unbeschränkte, lediglich durch seinen Etat beschränkte Rechte.

    Beliebige, schrankenlose Rechte nicht nur gegenüber dem Autor, den zu spielen er beauftragt ist oder sich entschlossen hat. Jedenfalls sofern dieser hinreichend lang tot ist und keine Erben existieren, die, mit ausreichenden juristischen Waffen versehen, über sein Werk wachen.

    Sondern er hat auch nahezu unbegrenzte Rechte gegenüber den Schauspielern, die unter seiner Regie arbeiten müssen, der moderne Theater- Regisseur. Er läßt sie so spielen, wie sie aus eigenem Urteil, aus eigener künstlerischer Verantwortung nie spielen würden.

    Er befiehlt ihnen, in seinem Auftrag das Stück zu verhunzen. Mit diesem etwas anzustellen, was dem Autor niemals in den Sinn gekommen wäre.



    Er hat das Recht, der moderne, autokratische Theater- Regisseur, Molières "Tartuffe" als ein Stück zu spielen, in dem ständig geschrien und getobt wird, in dem Obszönitäten und politische Flegeleien sich aneinanderreihen wie die Flüche der Bierkutscher. Das habe ich kürzlich bei den Ruhr- Festspielen Recklinghausen erleben dürfen; und ich habe darüber vor acht Wochen eine Meckerecke geschrieben.

    Warum also noch einmal auf das Thema kommen? Es gibt dazu zwei Anlässe.

    Der eine ist ein Kommentar, den der von mir hochgeschätzte französische Journalist Jacques Julliard, stellvertretender Chefredakteur des "Nouvel Observateur", kürzlich dort geschrieben hat.

    Ich stimme oft mit Julliard überein. Aber so aus dem Herzen gesprochen wie in diesem Kommentar - Titel "Les assassins du théâtre", die Meuchler des Theaters - hat er mir selten. Als Appetit- Häppchen hier der Beginn:
    Il faut bien, à la fin, donner libre cours à une juste colère et dénoncer publiquement cette entreprise inqualifiable qui, depuis une vingtaine d'années, ne tend à rien de moins, sous prétexte de les distraire, qu'à déposséder les Français de leur théâtre.

    Ce que je vise ici, c'est un travail obstiné, obscurantiste, pour expulser le texte de la scène et lui substituer la dictature arbitraire de ce démiurge autoproclamé et mégalomaniaque que l'on nomme metteur en scène.

    Comme toujours, c'est la lâcheté qui est à l'origine de la tyrannie. Une telle opération n'a pu en effet réussir qu'à la faveur de la connivence servile d'une partie de la critique, de la complicité financière de l'Etat et du silence intimidé du public.

    Es muß endlich einmal jemand seinem gerechten Zorn freien Lauf lassen und öffentlich dieses unqualifizierte Unternehmen an den Pranger stellen, das seit zwanzig Jahren auf nicht weniger gerichtet ist als darauf, unter dem Vorwand, sie zu unterhalten, den Franzosen ihr Theater zu rauben.

    Worauf ich hier ziele, das ist ein stures, obskurantistisches Bemühen, den Text von der Bühne zu vertreiben und an seine Stelle die willkürliche Diktatur jenes selbsternannten, größenwahnsinnigen Halbgotts zu setzen, den man Regisseur nennt.

    Wie immer ist die Feigheit der Ursprung der Tyrannei. Eine solche Operation konnte ja nur dank des servilen Mitspielens eines Teils der Kritik gelingen, dank der finanziellen Komplizenschaft des Staats und dank des Schweigens eines eingeschüchterten Publikums.
    Und so fort, über fast eine ganze Druckseite.

    Wer Französisch liest und wer Sinn für eine Polemik von Heine'scher oder Tucholsky'scher Qualität hat (heute gibt es das ja in Deutschland leider kaum noch), dem sei Julliards gerechter Zorn wärmstens empfohlen.



    Der aktuelle Anlaß dafür, daß ich nun zum zweiten Mal über die Willkür schlechter Regisseure meckere, ist die Affäre Schlingensief.

    Diesen Namen mit "Affäre" zu assoziieren ist ungefähr so originell, wie Karl May einen Vielschreiber zu nennen. Mir ist der Name Schlingensief bisher überhaupt nur im Zusammenhang mit Affären begegnet, mit Skandalen.

    Irgendwie scheinen Künstler wie Schlingensief oder Jonathan Meese einem logischen non sequitur zum Opfer gefallen zu sein: Große Künstler haben oft Skandale verursacht; das ist wahr. Nun glauben Leute wie diese beiden, daß schon der Skandal den großen Künstler macht.

    Sokrates ißt Bananen. Affen essen Bananen. Also ist Sokrates ein Affe. Das war das Beispiel, mit dem die antiken Logiker ihren Schülern diesen Denkfehler ausgetrieben haben sollen.

    Worum geht es beim aktuellen Schlingensief- Skandal?

    Also, der Komponist Moritz Eggert hat eine Oper geschrieben, die "Freax" heißt und in der ein Zwerg, eben ein Freak (also eine Mißgeburt, zu deutsch) sich in eine schöne Frau verliebt.

    Schlingensief sollte das in Bonn inszenieren. Und Schlingensief hatte eine Idee.

    Man kann sie eine künstlerische Idee nennen.

    Man kann auch vermuten, daß es die Idee zu einem Skandal war. Wie auch immer - statt daß ausgebildete Sänger die Oper singen, wie das ja eigentlich bei einer Oper üblich ist, wollte Schlingensief leibhaftige Behinderte auf die Bühne stellen.

    Wie begründet er das, der Künstler Schlingensief?

    So: "Wenn eine Oper sich um das Thema Behinderung kümmert, dann darf sie die Behinderten nicht als Beiwerk benutzen, dann sind sie ein Zentralthema, dann haben diese Menschen auch an den entsprechenden Stellen zu singen".

    Eine bestechende Logik, nicht wahr?

    Wenn eine Oper sich um das Thema Kriminalität kümmert, dann sollte nicht ein Sänger den Mackie Messer geben, sondern dann hat ein richtiger Gauner "an den entsprechenden Stellen zu singen".

    Und wenn ein Künstler wie Schlingensief "La Traviata" inszeniert, dann wird er sicher eine Dame aus dem Milieu für die Titelrolle finden. Welch ungewohntes Verngügen für das Opern- Publikum!



    Ein wenig hirnrissig? Ja, gewiß. Aber gute Schauspieler, ausgebildete Sänger - die stören im Grunde ja nur die Kreise eines genialen Künstlers wie Schlingensief.

    Jacques Julliard hat auch das trefflich geschildert:
    Car le metteur en scène, cet hypocondriaque jaloux, ne se contente pas d'en vouloir à l'auteur et au public. Il n'a de cesse qu'il ne prive les comédiens de leur talent. Un comédien doué est une concurrence à éliminer sans faiblesse.

    Résultat : les acteurs français, longtemps parmi les meilleurs du monde, sont désormais transformés en marionnettes décérébrées et convulsives, afin de mieux faire ressortir l'unique génie du Big Brother de la coulisse.

    Aber der Regisseur, dieser eifersüchtige Hypochonder, begnügt sich nicht damit, dem Autor und dem Publikum zu Leibe zu rücken. Er gibt erst Ruhe, wenn er auch noch den Schauspielern ihr Talent geraubt hat. Ein begabter Schauspieler ist eine Konkurrenz, die man erbarmungslos beseitigen muß.

    Ergebnis: Die französischen Schauspieler, einst unter den besten der Welt, werden jetzt in hirnlose, zuckende Marionetten verwandelt, damit das einzigartige Genie des Big Brother in der Kulisse umso glänzender strahlt.

    So ist es bei unseren voisins d'Outre-Rhin. So ist es zunehmend auch bei uns in Deutschland.

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    Randbemerkung: Die Konstante im Leben des Lothar Bisky

    Lothar Bisky "Bild am Sonntag" ein Interview gegeben. Aus diesem Interview wird heute in den Medien zitiert, und zwar durchweg ein Satz, in dem Bisky die Existenz eines Schießbefehls an der Grenze der DDR bezweifelt.

    Der "Tagesspiegel" zum Beispiel zitiert das so: " 'Für mich ist nicht belegt, dass es einen generellen Schießbefehl gab. Denn den hätte nur der Nationale Verteidigungsrat beschließen können. In dieser Form ist er meines Wissens nicht dokumentiert', sagte Bisky in der 'Bild am Sonntag'."

    Überschrift beim "Tagesspiegel": "Bisky bezweifelt allgemeinen Schießbefehl an DDR-Grenze". Ähnlich titelt das ZDF: "Bisky bezweifelt allgemeinen DDR-Schießbefehl". Bei "Spiegel Online" lautet der Titel: "Bisky zieht Schießbefehl in Zweifel".

    Ist das eine Meldung wert? Mir scheint das nicht so.

    Denn die gesamte DDR-Nomenklatura bezweifelt ja die Existenz eines "Schießbefehls". Und natürlich haben sie Recht, Krenz und Genossen: So wenig, wie Hitler jemals einen Befehl zur Ermordung der europäischen Juden unterzeichnet hat, so wenig hat der Nationale Verteidigungsrat der Deutschen Demokratischen Republik einen Schießbefehl verabschiedet.

    Wie es war, das war kürzlich hier zu lesen: Die Grenzsoldaten wurden zum Schießen auf Flüchtende ausgebildet, und sie wurden bei der täglichen "Vergatterung" mündlich darauf hingewiesen, daß auf Flüchtende zu schießen war.

    Wer einen Flüchtling erschossen hatte, der kam nicht etwa vor ein Kriegsgericht, sondern er erhielt - wie es zum Beispiel in diesem Gerichtsurteil festgestellt wurde - eine Belobigung und eine Geldprämie.

    Daß ein Soldat, der befehlswidrig einen Flüchtling erschossen hätte, dafür belobigt worden wäre, ist undenkbar. Also gehorchte derjenige, der das tat, einem Schießbefehl.



    Nun gut. Bisky arbeitet mit demselben dialektischen Trick wie Krenz und andere Angehörige der DDR-Nomenklatura: Er weist darauf hin, daß es keinen schriftlichen Schießbefehl von Honecker oder dem Nationalen Verteidigungsrat gab und möchte damit den Eindruck erwecken, es habe überhaupt keinen Schießbefehl gegeben.

    Wobei er - wie auch schon der Geschäftsführer seiner Partei, Bartsch, - mit sozusagen kindlicher Naivität auf die Gesetze der DDR verweist. So, als hätten die für die "Staatsmacht" jemals bindende Kraft gehabt.



    Also, daß Bisky sich zum Schießbefehl so äußert wie die gesamte Riege der einst Mächtigen in der DDR, zu der er gehörte, ist nicht verwunderlich und keine Schlagzeile wert.

    Aber ein anderer Satz aus diesem Interview erscheint mir sehr interessant. Auszug aus dem Interview:
    Frage: Sie waren Mitglied der SED, der PDS, der Linkspartei und nun der Linken. Klingt eher wendig als vertrauenerweckend.

    Antwort: Demokratischer Sozialist bin ich immer geblieben. Das ist die Konstante in meinem Leben.
    "Demokratischer Sozialist" war Bisky also seinem Selbstverständnis nach, als er in der DDR lebte. Als er diesem Staat als hoher Funktionär diente. Als das sich zutrug, was hier zu lesen ist.

    Das allerdings schiene mir eine Meldung in den Medien wert gewesen zu sein. Denn viele bei uns - vermutlich die Mehrheit der Deutschen - glauben ja, daß Bisky und Genossen mit der "Konstanten" in ihrem Leben gebrochen haben. Daß sie ihren Irrtum eingesehen haben und Demokraten geworden sind; in der Tradition von Arthur Koestler, Ernst Reuter, Wolfgang Leonhard, Manès Sperber.

    Nein, das haben sie nicht. In dieser Tradition stehen sie nicht, Lothar Bisky und seine Genossen. Bisky hat als das, was er für einen demokratischen Sozialisten hält, die Diktatur in der DDR in führenden Funktionen unterstützt. Er hält sich heute unverändert für einen demokratischen Sozialisten.



    Es gibt noch eine Passage in dem Interview, die nachgerade unfaßbar ist. Bisky sagte: "Aber ich kenne eine Reihe von jungen Männern, die an der Grenze Dienst getan haben und die nicht geschossen haben. Der kürzlich verstorbene Schauspieler Ulrich Mühe war einer von ihnen. Man musste nicht schießen."

    Zynischer geht's kaum noch.

    Natürlich hoffte jeder der Wehrpflichtigen, die zu diesem Dienst geschickt wurden, daß er nicht in die Situation kommen würde, entweder auf einen Flüchtling zu schießen oder dienstlich zur Verantwortung gezogen zu werden. Natürlich hat es Anständige gegeben, die Nachteile auf sich genommen haben, weil sie nicht einen Menschen ermorden wollten. Das als Beleg gegen die Existenz eines Schießbefehls anzuführen ist absurd.

    Und Ulrich Mühe ist bekanntlich an dem, was Biskys Staat ihm als Soldaten der Grenztruppe abverlangte, fast zerbrochen. Wenn jetzt der Kommunist Bisky diesen Mann sozusagen als Kronzeugen anführt, dann kann einen wirklich der Ekel überkommen.

    Manchmal blitzt hinter der Maske des Biedermanns, mit der Bisky herumläuft, derjenige auf, der er wirklich ist.

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    25. August 2007

    Gedanken zu Frankreich (18): Deutschland bewegt sich nach links, Frankreich nach rechts - warum?

    In Deutschland hat kürzlich eine TSN Emnid- Umfrage im Auftrag der "Zeit" Aufsehen erregt, die darauf hindeutet, daß die Deutschen in ihrer Mehrheit links sind.

    In dieser aktuellen Umfrage bezeichneten sich 34 Prozent der Befragten als links und nur 11 Prozent als rechts. 1981 war die Relation umgekehrt (17 Prozent links, 38 Prozent rechts) und 1991 immerhin noch ungefähr ausgeglichen gewesen (24 Prozent links, 26 Prozent rechts; der Rest lokalisierte sich jeweils in der Mitte).

    Selbst von den Anhängern der Union bezeichneten sich 25 Prozent als links und nur 22 Prozent als rechts. (Die Union dürfte damit die einzige Partei der rechten Mitte in Europa, vielleicht weltweit sein, die - nach deren eigenen Aussagen - mehr linke als rechte Anhänger hat!).

    Zum Teil mögen diese Antworten einer intensiven öffentlichen Diskussion geschuldet zu sein, in der - vor allem, aber leider nicht nur von Seiten der Kommunisten und ihrer Verbündeten - der Begriff "rechts" ständig mit "rechtsextrem" identifiziert und damit diskreditiert wird. (Auch das ist eine deutsche Besonderheit; kein Franzose käme auf den Gedanken, "la droite" und "l'extrême-droite" auch nur in eine Nähe zueinander zur rücken).

    Aber das kann nicht die ganze Erklärung sein. Denn auch in den Einstellungen zu vielen politischen und gesellschaftlichen Einzelfragen fanden die Demoskopen bei der Mehrheit der Deutschen eine Linksneigung.

    So glauben 72 Prozent, daß die "Regierung zu wenig für soziale Gerechtigkeit" tue. 68 Prozent sind für die Einführung von Mindestlöhnen. Nur 15 Prozent sind mit der Rente mit 67 einverstanden.

    67 Prozent sind dafür, daß Bahn, Telekom, Energieversorgung in Staatsbesitz sind; nur 27 Prozent wollen sie in privatem Besitz sehen. Und während die Macht der Gewerkschaften bei früheren Umfragen mehrheitlich als "zu groß" beurteilt wurde, ist jetzt eine Mehrheit, fast die Hälfte der Befragten (46 Prozent), der Meinung, sie sei "zu klein".



    Im aktuellen "Nouvel Observateur" werden die Ergebnisse einer Umfrage des Instituts TNS Sofres vorgestellt, die zwar einen etwas anderen Hintergrund hat, die aber auch auf die Haltung der Befragten zu linken und rechten politischen Positionen zielt. (Die Web- Version des Artikels enthält nicht die Ergebnis- Tabellen. Ich zitiere aus diesen aufgrund der gedruckten Ausgabe des "Nouvel Observateur").

    In dem Begleit- Artikel von Claude Ascolovitch geht es um die Gründe für die Niederlagen der PS bei den vergangenen Wahlen und um die Aussichten dieser Partei. Dazu wurde, ähnlich wie in der deutschen Umfrage, die Meinung zu politischen Streitfragen erhoben. Und fast durchweg fand sich eine Mehrheit für rechte Positionen:
  • Die von der rechten Mehrheit in der Nationalversammlung beschlossene Einschränkung des Streikrechts (Service Minimum) wurde von 67 Prozent als "angemessen" beurteilt. Nur 30 Prozent fanden sie "nicht angemessen".

  • Eine Verschärfung der Strafandrohung für Rückfall- Täter wird von 62 Prozent begrüßt; nur 32 Prozent lehnen sie ab.

  • Die Legalisierung von illegal in Frankreich lebenden Ausländern - ein Lieblingsprojekt der Linken - wird von 56 Prozent abgelehnt. Lediglich 38 Prozent würden sie begrüßen.

  • Eine Verkürzung der Arbeitszeit lehnen sogar 68 Prozent ab; nur 28 Prozent sprechen sich dafür aus.

  • Als aussichtsreiches Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sprechen sich 49 Prozent für "größere Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt" aus. Das linke Rezept, die Gesetze zum Schutz der Arbeitnehmer zu verbessern, halten nur 39 Prozent für den richtigen Weg.

  • Und das vielleicht erstaunlichste Ergebnis: Auf die Frage nach der Haltung zur Marktwirtschaft entschieden sich nur 16 Prozent für die Aussage: "Sie ist ein schlechtes System und muß geändert werden". Volle 65 Prozent der Befragten bejahten dagegen die Aussage: "Sie ist das am wenigsten schlechte System; sie sollte ausgebaut werden".
  • Gewiß, es handelt sich um andere Fragen als diejenigen, die den Befragten von Emnid gestellt wurden. Aber es ist doch offensichtlich, daß die Franzosen - heutzutage, in dieser aktuellen Befragung - in ihrer Mehrheit rechte politische Positionen bevorzugen, während die Deutschen im Zweifelsfall - heutzutage, in der deutschen aktuellen Befragung - nach links neigen. Warum ist das so?



    Es ist eine triviale Feststellung, daß es für solche Unterschiede nie eine einzige Ursache gibt. Es ist ebenso trivial, daß die Frage nach den Ursachen eine empirische Frage ist; eine für die empirische Sozialforschung also.

    Aber dies gesagt - ich möchte eine Hypothese zur Diskussion stellen. Sie ist spekulativ, wie anders. Aber sie scheint es mir wert, in Betracht gezogen zu werden. Sie ergänzt das, was ich früher über eine strukturelle linke Mehrheit im wiedervereinigten Deutschland geschrieben habe.



    Seit den achtziger Jahren standen Deutschland und Frankreich vor im wesentlichen denselben Problemen:
  • Sie hatten ein System der sozialen Rundum- Versorgung, das immer weniger zu bezahlen war.

  • Sie hatten Arbeitnehmer, die es gewohnt waren, für immer höhere Löhne immer weniger zu arbeiten.

  • Sie hatten einen unterentwickelten Dienstleistungs- Sektor (sieht man von den staatlichen "Dienstleistungen" ab, die freilich wenig von Dienst und viel von Herrschaft an sich hatten).

  • Und vor allem hatten sie eine Industriestruktur, die überhaupt nicht fit für den heraufziehenden Wettbewerb mit den sich schnell industrialisierenden Staaten Asiens war.


  • Anders als zum Beispiel Großbritannien, Neuseeland, Holland, die skandinavischen Staaten reagierten Frankreich und Deutschland auf diese Herausforderungen, indem die Regierungen den Kopf in den Sand steckten.

    In Frankreich waren in den achtziger Jahren die Sozialisten und die Kommunisten an der Macht. Für sie war die Globalisierung nur ein Trick des bösen Kapitals, um die Arbeiter noch mehr auszubeuten.

    In Deutschland gab es zwar die rechte Regierung Kohl; aber ihre zaghaften Reformversuche wurden durch die Obstruktionspolitik der SPD im Bundesrat blockiert.

    In den neunziger Jahren, bis hinein ins neue Jahrtausend änderte sich in beiden Ländern im Grunde nichts.

    Deutschland war zunächst mit den Folgen der Wiedervereinigung beschäftigt; dann leisteten sich die Deutschen eine rotgrüne Regierung, die fünf Jahre lang mit geradezu diabolischer Zielsicherheit das Gegenteil von dem tat, was notwendig gewesen wäre.

    In Frankreich schleppten sich die Regierungen unter Mitterand bis 1995 hin; zuletzt in Gestalt einer Cohabitation, in der Mitterand mit einer rechten Mehrheit in der Nationalversammlung regieren mußte.

    Als Jacques Chirac seine Nachfolge antrat, gab es eine kurze Phase eines rechtsliberalen Aufbruchs. Aber bald neutralisierten sich die beiden Regierungsparteien (die Gaullisten und die Liberalen) in internen Streitigkeiten gegenseitig. Dann gab es - von 1997 bis 2002 - wieder eine Cohabitation; diesmal zur Abwechslung die einer linken Parlaments- Mehrheit mit einem rechten Präsidenten.

    Und über all dem wurde Chirac immer kraftloser; ähnlich wie Kohl in seinen letzten Jahren. Selten waren die Franzosen über den Abschied eines Präsidenten so froh wie im Mai dieses Jahres, als sie Chirac endlich losgeworden waren.



    Bis in die unmittelbare Gegenwart hinein hatte also weder Frankreich noch Deutschland eine Regierung, die die Herausforderungen der Globalisierung akzeptierte; die die dringend erforderlichen neoliberalen Reformen anpackte.

    Als es dann aber doch so weit war, geschah es auf radikal verschiedene Weise. Und darin liegt, so scheint mir - so lautet jedenfalls die Hypothese - der Grund dafür, daß in Deutschland heute eine linke, in Frankreich eine rechte Grundstimmung herrscht.



    In beiden Ländern wurden zwar nach der Jahrtausendwende die Probleme so offensichtlich, daß es eine breite öffentliche Diskussion darüber gab, was geändert werden mußte.

    Aber die Änderung, die Wende vollzog sich auf völlig verschiedene Art.

    In Frankreich hatten sich sowohl François Bayrou als auch Nicolas Sarkozy zu Anwälten marktwirtschaftlicher Reformen gemacht; der eine mehr am modernen Neoliberalismus orientiert, der andere mehr an der ordoliberalen Position Ludwig Erhards.

    Diese beiden Kandidaten, die beide Wirtrschaftsliberale sind, erreichten im ersten Wahlgang der Präsidentschafts- Wahlen zusammen genau 50 Prozent der Stimmen; gegenüber 26 Prozent für die sozialistische Kandidatin und rund 37 Prozent für die gesamte Linke.

    Die Franzosen hatten sich also, nach einer breiten öffentlichen Diskussion und mit vollem Bewußtsein dessen, worauf sie sich einließen, für liberale Reformen entschieden. Sie erwarten jetzt, daß diese Früchte tragen und sind also in ihrer Mehrheit rechts.



    In Deutschland dagegen hat die rotgrüne Regierung von ihrem Amtsantritt im Herbst 1998 bis zum März 2003 alle liberalen Reformen verteufelt. In ihren ersten Jahren machte sie viele der Reformen Kohls wieder rückgängig; später fand eine "Politik der ruhigen Hand", d.h. des Nichtstuns, statt.

    Mit heftiger Ablehung aller neoliberalen Reformen hatte Schröder die Wahlen im Herbst 2002 gewonnen. Einige Monate später putschte er.

    Das ist die richtige Bezeichung für das, was Schröder zwischen den Dezember 2002 und seiner Regierungserklärung am März veranstaltete: Erst wurde ein Strategiepapier aus dem Kanzleramt Ende Dezember an die Öffentlichkeit lanciert. Dann gab es hektische Aktivität der Regierung und in den Regierungsparteien. Und am 14. März 2003 hörte die staunende Nation eine Regierungserklärung von Gerhard Schröder, die das genaue Gegenteil der wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Positionen proklamierte, mit denen er ein halbes Jahr zuvor die Wahlen gewonnen hatte.



    Viele Deutsche haben seither zu Recht den Eindruck, daß sie sich nicht nach einer öffentlichen Diskussion frei für liberale Reformen entschieden haben wie die Franzosen, sondern daß diese Reformen ihnen von "denen da oben" aufgedrückt wurden.

    Seither geht es abwärts mit der SPD. Zu Recht.

    Nicht, weil sie sich damals, 2003, zu den erforderlichen Reformen durchgerungen hat.

    Sondern weil die Regierung Schröder sich schlimmer als ein autoritärer Monarch verhalten hat, indem sie diese Reformen par ordre du mufti oyktroyierte. Weil Schröder, wie er es in seiner gesamten Karriere gemacht hat, erst das eine sagte und dann das andere tat; weil er, wie immer, mit einer Überrumpelungstaktik arbeitete.



    Diese Reformen sind dadurch von Anfang an in den Ruch des Willkürlichen, des Ungerechten geraten. Der Aufstieg der WASG, der dann zum Aufstieg auch der PDS führte, hat darin seine Ursache.

    Die Deutschen sind jetzt mehrheitlich links, weil sie mehrheitlich diese liberalen Reformen nicht als notwendig, sondern als eine Willkür wahrgenommen haben. Genau umgekehrt wie die Franzosen, die in ihnen eine Chance sehen, mehrheitlich.

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    24. August 2007

    Marginalie: Was die Gemeinde Argenteuil gegen Obdachlose tut

    Argenteuil ist ein Vorort von Paris. Der größte, mit einem hohen Ausländer- Anteil.

    Es gibt auch viele Obdachlose in Argenteuil. Und ein Einkaufs- Zentrum, das "Côté Seine" in der Stadtmitte. Die Obdachlosen leben gern dort. Genauer gesagt: In der Umgebung der Notausgänge dieses Zentrums. Vermutlich, weil man dort geschützt ist, weil es warm ist, weil man unter sich ist.

    Dem Bürgermeister von Argenteuil, dem UMP-Politiker Georges Mothron, und seiner Verwaltung mißfällt das. Aber verbieten können sie nur das Betteln, nicht den Aufenthalt von Obdachlosen im Stadtzentrum. Also haben sie, so meldet heute Agence France Presse sich etwas einfallen lassen, die Stadtoberen von Argenteuil.



    In Frankreich gibt es eine Firma namens Firchim, die ein Produkt namens Malodore herstellt. Es wird mit Hilfe einer Pumpe versprüht und setzt sich dort, wo man es hingesprüht hat, über Wochen fest. Wenn man es einatmet, dann erzeugt das Übelkeit.

    Von dieser Firma also hat das Bürgermeisteramt von Argenteuil im Juli einen Karton Maladore gekauft, um das Mittel dort zu versprühen, wo sich die unerwünschten Obdachlosen aufhalten, die SDF.

    Versprühen sollten das städtische Angestellte, aber sie weigerten sich. Das Mittel sei giftig und ein Reizmittel. Es sei schädlich, es einzuatmen. Ratten zu bekämpfen sei man bereit, hieß es aus Kreisen dieser städtischer Angestellter, aber keine SDF.



    Das Mittel sei daraufhin von der Bürgermeisterei direkt an die Betreiber des Einkaufszentrums ausgegeben worden. Diese bestätigten laut AFP in der Tat, daß es inzwischen an den Notausgängen des Zentrums versprüht worden sei.

    Inzwischen hat sich auch der Hersteller zu Wort gemeldet. Das Mittel werde von verschiedenen Gemeinden genutzt. Man versprühe es an Stellen, wo Betrunkene gefährdet seien - an Schnellstraßen, unter Brücken - , um sie dort vor Gefahren zu bewahren.

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    Zitat des Tages: Die FAZ über die Situation der deutschen Universitäten

    Schon die Bedingungen der Massenuniversität hatten die Forschungsmöglichkeiten erheblich eingeschränkt, nun aber rauben die Bachelor-Studiengänge ... zusätzliche Energie. Bei erschwerten Arbeitsbedingungen und zusätzlicher Belastung wird die Bezahlung dazu noch schlechter. Unter diesen Bedingungen ... werden sich weder die besten Köpfe im Lande noch Spitzenwissenschaftler aus dem Ausland für deutsche Universitäten begeistern.
    Aus einem heutigen FAZ-Artikel von Heike Schmoll. Sehr lesenswert!
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    23. August 2007

    Randbemerkung: Lothar Bisky fordert mehr Zivilcourage

    Der Vorsitzende der Partei, die sich im Augenblick "Die Linke" nennt, hat heute dem Deutschlandradio Berlin ein Interview aus Anlaß der Vorfälle in Mügeln gegeben. Darin sagte er unter anderem:
    Es ist richtig, dass wir uns entrüsten. Aber ich hätte gerne etwas mehr Stetigkeit in der Arbeit, damit Zivilcourage vor Ort gestärkt werden kann, damit wir das nicht als eine Tagesaufgabe oder als eine Kampagne alleine sehen können. (...)

    Man muss etwas stetiger Zivilcourage vor Ort stärken. (...)

    Und ich glaube, man muss etwas mehr tun für die Menschen, die sich vor Ort mit Zivilcourage solchen Tendenzen entgegen stellen. (...)
    Dreimal forderte Lothar Bisky in diesem Interview mehr "Zivilcourage".

    Lothar Bisky war ein führender Kulturfunktionär der DDR, bis zu deren Ende. Er hat über das Thema "Massenkommunikation und Jugend" promoviert und war Abteilungsleiter beim "Zentralinstitut für Jugendforschung" in Leipzig.

    Später lehrte er an der "Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED" und wurde dann Rektor der "Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam", einer der Kaderschmieden für Agitprop im kulturellen Bereich.

    Lothar Bisky hat also in führenden Positionen über Jahrzehnte die Politik, speziell die Jugendpolitik, der DDR-Führung mitverantwortet, die auf die Unterdrückung jedes Ansatzes zur Zivilcourage gerichtet war.

    Die Duckmäuser und Leisetreter heranziehen wollte und jeden, der Zivilcourage zeigte, dafür erbarmungslos bestrafte - von den "Bausoldaten", die lange Zeit zu den elendesten Arbeiten abkommandiert wurden, bis zu den Tausenden, die in Hohenschönhausen und Bautzen verschwanden, weil sie die Zivilcourage gezeigt hatten, ihre Meinung über die Herrschaft der Partei Biskys laut zu sagen.

    Und nun stellt dieser Mann sich hin und fordert, Zivilcourage zu stärken. Welch eine Heuchelei. Welch eine Geringschätzung der Intelligenz der liberalen Öffentlichkeit, an die Bisky sich wendet. Welch eine Chuzpe.



    Da lobe ich mir doch die im Vergleich dazu ehrliche Haltung von Biskys Genossin, der brandenburgischen Landtags- Abgeordneten Karin Weber, die die Angehörigen einer Hilfsorganisation ehemaliger Stasi- Leute und DDR- Grenzschützer zum "Kampf gegen Rechts" aufrief: "Ich rufe Sie auf, sich überall, wo sie zu Hause sind, sich in diesen Kampf mit einzubringen." Das wolle sie "einfordern".

    Für Zivilcourage waren sie nicht unbedingt bekannt, die Leute aus der Normannenstraße, die Offiziere der Grenztruppe. Aber sich in einen Kampf einbringen, das haben sie wohl gelernt.

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    Marginalie: Ade, Kosmoblog!

    Ulrich Speck kann, weil er eine neue Stelle antritt, den "Kosmoblog" nicht mehr weiterführen.

    Zum Abschied hat er einen längeren Beitrag geschrieben, in dem er über das Bloggen nachdenkt, auf seine Arbeit zurückblickt, seine liberale Position darlegt.

    Unbedingt lesenswert!

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    Marginalie: Wie googelt man sich in "Zettels Raum"?

    Ein Viertel bis ein Fünftel der Besucher findet über eine Suchmaschine den Weg in "Zettels Raum"; fast durchweg ist es Google.

    Manchmal werfe ich einen Blick in die Liste der betreffenden Suchanfragen. (Ich bekomme sie via Histats, für das ich bei dieser Gelegenheit gern ein wenig Reklame mache).

    Ich finde es lehrreich und auch lustig, das zu lesen; vor allem in der bunten Mischung, in der es die chronologische Auflistung aneinanderreiht.

    Hier ist - vielleicht auch zu Ihrer, liebe Leser, Belehrung, Erbauung und Belustigung - die Liste der letzten Tage:

    zettels raum embryonenschutz
    zettels raum
    agnostiker
    achtundsechziger
    inzest
    intelligenztest 130 konstanz
    antiamerikanismus
    abschaffung nachtspeicheröfen
    cecilia sarkozy
    zettels raum blog
    rußland entwicklung geburtenrate
    kloster aufenthalt
    generalleutnant karl leonhardt
    ende der fünften republik
    watschelt
    charlotte m marco weiss
    bedeutung wäldchestag wikipedia
    dellwo raf
    shaker assem
    schwarzfahren im ice
    voraussetzungen für hochkultur
    katastrophen 1900 bis 1920
    deutsche grundschule
    frankreich pyrenäen
    automatische lager mathematik
    diskriminierungs artikel am 22.8.07
    raf konsequenz des kommunismus
    amerikanische atomraketen
    hurricans
    korrelation mordrate und waffenbesitz
    czerni- - wien - holocaust
    frauensport im 19. jahrhundert
    latinismen
    karikatur rein in die kartoffeln, raus
    bahn gültigkeit rückfahrkarte
    vorlagen 80 geburtstag
    entkolonialisierung
    ziele raf stichworte
    sebnitz skandal ende
    henryk m. broder vernachlässigt mdr
    jugendgottesdienst "feste burg"
    wie schreib ich ein einladung
    vergleich nach bleek
    cimetiere marin übersetzung
    woher der name buridanischer esel
    luise dellwo
    kurt beck schlechtes image
    was heisst vance?
    vom armen b.b.
    fkk schönheit
    helmut schmidt trifft michael naumann
    traum gedanken
    vom armen bb
    toilette iran foto
    posener fotzen
    rauchen verboten wohnung paragraph
    charlotte marco weiss
    freiheit hass
    thomas pauli show
    freiburg konstanz iq gebühren
    "heinz dellwo" autor
    quiz über den jahrgang 1947
    schurkenstaaten fotos
    der politische film
    vladimir kotenev
    weit überdurchschnittliche begabung iq
    jubal harshaw
    eskapaden
    zettel
    promotionsstipendium kempowski
    venezuela sozialistisch
    buf bewegung undogmatischer frühling
    es muss demokratisch aussehen
    hebel sultan kluge interpretation
    iraq slogger
    globale erwärmung 1995
    martin walser leserbrief
    "immer daran denken nie davon"
    azubine fräulein
    80. geburtstag gedicht
    checkers-rede rhetorik
    utrecht nutten ulla
    marx mathematische manuskripte
    ordnungsrufe gegen wehner
    kommunismus zusammenbruch
    zehnerpotenzen
    warum barschel ermordet wurde
    hawie-test
    pflichtteil uneheliche kinder in der ddr
    erleuchtung blitze
    charlotte m marco
    gabor steingart, spiegel-korrespondent
    zehnerpotenzen online
    quadratwurzel europa
    afri cola strategie
    fußball spieltheoretische betrachtung
    gedichte 80 geburtstag
    ag grenze
    punktewertung abitur 2009
    geh zum deifi, sauluada, dreckats!
    politikmüdigkeit
    bundesnichtraucherschutzgesetz raucherzimmer
    entkolonialisierung indien
    tricks bei abstehenden ohren
    kommunistisches venezuela
    raf
    ideologie der spd
    vietnam krieg fotos
    less bread more taxes
    freiluftsex
    wo empfange ich france 24
    umweltredaktion sueddeutsche zeitung
    karl leonhardt, generalleutnant a.d.
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    irgendwo im raum europa
    marco weiss
    merkel beliebt
    was ist eine these
    unglückliche generation
    irak theorie der aufklärung
    überblick parteien links linksliberal
    todesanzeige in müllrose zeitung
    wiegrefe preußen
    seit wann todesstrafe in deutschland
    putin fotos castro
    anfangs nächster woche rechtschreibung
    guardian adenauer marx luther
    zettel raum
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    Wladimir Putins Restauration vordemokratischer Verhältnisse: Drei aktuelle Beispiele

    Drei Artikel zu Rußland sind mir in den letzten Tagen aufgefallen. Einer gestern in der auf englisch erscheinenden russischen Zeitung "St. Petersburg Times"; die beiden anderen vorgestern in der "International Herald Tribune".

    Sie handeln von verschiedenen Themen. Aber es paßt zusammen, was dort zu lesen ist: Als Facetten einer Restauration, die in Rußland auf eine ähnliche Weise im Gange ist, wie die Rückkehr der Bourbonen nach dem Sieg über Bonaparte das Ancien Régime wiederhergestellt, es eben restauriert hat.

    Nein, was da in Rußland restauriert wird, das ist nicht der Sowjetkommunismus; das nicht.

    Aber es ist das autoritäre, manchmal bis ins Despotische gehende Herrschafts- System, das in Rußland besteht, seit Iwan IV Wassilijewitsch, der Schreckliche, sich als der erste gesamtrussische Zar etablierte.

    1989 schien dieses System, das die Kommunisten von den Zaren übernommen und perfektioniert hatten, unterzugehen wie die Herrschaft der Bourbonen 1789.

    Aber sie kehrten zurück, die Bourbonen. Und in unseren Tagen kehrt Rußland zurück dorthin, wo es sich politisch seit Jahrhunderten befunden hat: Zu vordemokratischen Verhältnissen.



    In der "St. Petersburg Times" beschreibt David M. Woodruff die zunehmenden staatlichen Eingriffe in die russische Wirtschaft.

    Die staatliche Bank Vneshtorgbank (VTB) schluckt private Konkurrenten. In der Rüstungs- und Luftfahrtindustrie schließen sich bisher private Firmen zu Konzernen unter staatlicher Kontrolle zusammen. Die staatliche Waffenexport- Firma Rosoboronexport kontrolliert inzwischen Teile der Automobil- und der Stahlindustrie. Gazprom hat beantragt, den Kohleproduzenten SUEK zu übernehmen; damit würde Gazprom zusätzlich zum Gasgeschäft 40 Prozent der Kohleförderung in Rußland in der Hand haben.

    Woodruff hebt hervor, daß diese Ausdehnung des staatlichen Sektors nicht einfach die Rückkehr zur Sowjet- Wirtschaft ist. Es wird nicht per Dekret verstaatlicht, sondern die Staatsunternehmen kaufen private Firmen auf. Sie sind an den internationalen Börsen tätig, sie stehen in Rußland im Wettbewerb mit ausländischen Firmen.

    Aus meiner Sicht ist das die Art, wie Putin dem chinesischen Modell folgt, das seinerseits nach dem Vorbild des chilenischen Modells konzipiert ist, das seinerseits viel Ähnlichkeit mit dem Nazi- System hatte: Ein staatlich kontrollierter Kapitalismus, dessen Rahmenbedingungen durch politische Repression stabil gehalten werden.

    Es ist schon eine Ironie der Geschichte, daß der "staatsmonopolistische Kapitalismus" (Stamokap), als den die DDR-treuen Kommunisten der DKP und des MSB Spartakus in den siebziger Jahren die Bundesrepublik zu diffamieren trachteten, jetzt doch noch Wirklichkeit geworden ist. Freilich auf dem Boden des Kommunismus.



    Wie sehr dieses sich in Rußland etablierende Stamokap- System Züge des Nazismus trägt, zeigen die beiden Artikel in der "International Herald Tribune".

    Unter der Überschrift "Racists in Russia - Kremlin turns a blind eye to racism" ("Rassisten in Rußland - der Kreml verschließt die Augen vor dem Rassismus") schreibt Jeff Mankoff:
    The list of racially motivated violent crimes in Russia - mostly but not exclusively directed against individuals from the Caucasus and Central Asia - is long and depressing. A nine-year old Tajik girl killed and her family beaten by skinheads in St. Petersburg in February 2004. A Vietnamese college student is beaten and stabbed to death by a gang of skinheads in October 2004. A neo-Nazi stabs eight people in Moscow's Chorale Synagogue in January 2006.

    In the majority of such cases, the perpetrators - if prosecuted at all - have been convicted of nothing more serious than "hooliganism" and given short prison terms.

    Die Liste der rassistisch motivierten Gewaltverbrechen in Rußland - sie richten sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich gegen Personen aus dem Kaukasus und Zentralasien - ist lang und deprimierend. Ein neunjähriges tadschikisches Mädchen und ihre Familie im Februar 2004 in St. Petersburg getötet, ihre Familie zusammengeschlagen. Ein vietnamesischer Student wird im Oktober 2004 von einer Bande von Skinheads geprügelt und mit Messerstichen getötet. Ein Neo- Nazi sticht im Januar 2006 in der Moskauer Choral- Synagoge auf acht Menschen ein.

    In der Mehrzahl derartiger Fälle wurden die Täter - wenn sie überhaupt verfolgt wurden - wegen nicht mehr als "Hooliganismus" zu niedrigen Gefängnisstrafen verurteilt.
    Warum duldet Putins Regierung solche bestialischen Akte der Fremdenfeindschaft (bis hin zum auf Video aufgenommen Köpfen eines Opfers)?

    Aufgrund einer zynischen Rechnung, meint Mankoff: Der Kreml föderere gezielt den Nationalismus als ein Instrument zu seinem Machterhalt. Die Regierung habe lange ihre schützende Hand über rechtsextreme Parteien wie die von Wladimir Schirinowski gehalten, später dann über die Rodina, die Vaterlands- Partei. Von dieser rechtsextremen Partei wird sogar behauptet, sie sei vom Kreml gegründet und finanziert worden.

    Als die Rodina allerdings zu erfolgreich zu werden begann, schwenkte der Kreml selbst - so Mankoff - auf einen zunehmend rechtsextremen Kurs ein, um ihr das Wasser abzugraben.

    Im April dieses Jahres wurde ein Gesetz verabschiedet, das es Einwanderern aus dem Kaukasus untersagt, im russischen Einzelhandel zu arbeiten. Nationalistische Einstellungen gegen Georgier wurden vom Kreml planmäßig geschürt, schreibt Mankoff, und fährt fort:
    Given the Kremlin's cynical manipulation of nationalist passions, it is little wonder extremists feel they can abuse and kill non-Russians with impunity. As the success of Rodina shows, a substantial percentage of the Russian electorate is attracted to such extremism. By pandering to these passions, the Russian government is playing with fire, acknowledging that xenophobia is an acceptable political strategy.

    Angesichts dieser zynischen Manipulation nationalistischer Affekte durch den Kreml ist es kaum verwunderlich, daß Extremisten glauben, sie könnten straflos Nicht- Russen mißhandeln und ermorden. Wie der Erfolg der Rodina zeigt, wird ein erheblicher Teil der russischen Wählerschaft durch derartigen Extremismus angezogen. Indem sie diesen Affekten Vorschub leistet, spielt die russische Regierung mit dem Feuer. Sie räumt damit ein, daß Fremdenfeindlichkeit eine akzeptable politische Strategie ist.


    Auch Paul Kennedy, Direktor der Abteilung für Internationale Sicherheitsfragen der Universität Yale, zeichnet in der "International Herald Tribune" ein düsteres Bild der Lage in Rußland.

    Nicht das militär- und außenpolitische Muskelspiel Putins sieht Kennedy als besonders besorgniserregend an - so sei Rußland immer gewesen, seit Iwan dem Schrecklichen -, sondern den Nationalismus, den Putin ermutige und pflege.

    Kennedy nennt zwei Beispiele.

    Erstens die Schaffung einer staatlichen Jugendorganisation, der "Naschi" (die "Unseren"). Die Jugendlichen werden dort indoktriniert in Vaterlandsliebe, Familiensinn, russischen Traditionen, der Verabscheuung von Fremden - von amerikanischen Imperialisten, tschetschenischen Terroristen, undankbaren Esten.

    Die Kader der Naschi werden in Lagern trainiert. Sie waren es, die in Estland und vor der britischen Botschaft in Moskau als Unruhestifter auftraten. Rund 60 000 dieser Kader werden, so hat es die "Financial Times" recherchiert, dafür ausgebildet, die bevorstehenden Wahlen zu "überwachen". "I find this all pretty creepy", resümiert Paul Kennedy - er finde das alles ganz schön gruselig.

    Kennedys zweites Beispiel ist ein neues russisches Geschichtsbuch, das Putins persönliche Empfehlung hat:
    It's a bit more disturbing to learn that the new Russian history manual teaches that "entry into the club of democratic nations involves surrendering part of your national sovereignty to the U.S." and other such choice contemporary lessons that suggest to Russian teenagers that they face dark forces abroad.

    Es ist ein wenig beunruhigender, zu erfahren, daß das neue russische Geschichtsbuch lehrt, daß "wer in den Club der demokratischen Staaten eintritt, damit einen Teil seiner nationalen Souveränität den USA ausliefert"; und dergleichen mehr heutige Lektionen, die russischen Jugendlichen finstere ausländische Mächte auf der anderen Seite suggerieren.
    Professor Kennedys Bewertung dieser beider Beispiele: Die Aktionen der Naschis mögen Fußnoten der Geschichte bleiben, meint er. Hingegen:
    ... the deliberate campaigns to indoctrinate Russian youth and to rewrite the history of the great though terribly disturbed nation that they are inheriting might be much more significant for the unfolding of our 21st century.

    ... die bewußten Feldzüge, die russische Jugend zu indoktrinieren und die Geschichte dieser großen, wenn auch entsetzlich verunsicherten Nation umzuschreiben, die deren Erbe ist, könnten weit bedeutsamer für die Entwicklung unseres 21. Jahrhunderts sein.


    Das sind drei Stellungnahmen aus der aktuellen internationalen Presse.

    Und in Deutschland? Wird denn da gar nichts Beunruhigendes über Rußland berichtet?

    Aber ja doch! Eine Russin hat den Penis ihres Ex- Mannes angezündet.

    Das immerhin erfahren wir, wir Millionen Deutsche, die wir unser aktuelles Wissen aus "Spiegel-Online" beziehen.

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    22. August 2007

    Randbemerkung: Frankreich hat wieder eine Irak-Politik

    Bernard Kouchners Visite im Irak ist das äußere Zeichen für den radikalen Wandel in der französischen Irak- Politik, über den Katrin Bennhold gestern in der "International Herald Tribune" berichtete.

    Ein Wandel, der längst fällig war. Der im Grunde kein Wandel ist, sondern eher die Rückkehr zu einer an den Interessen Frankreichs im Nahen Osten orientierten Irak- Politik.

    Der Außenminister Kouchner bietet Frankreichs gute Dienste für eine Verhandlungs- Lösung im Irak an:
    "I believe this is the moment. Everyone knows the Americans will not be able to get this country out of difficulty alone (...) This is about having an opinion and knowing what positive things one can do and what role France can play in this region," he said, adding that Iraq was "expecting something" from France.

    "Ich glaube, daß der Moment gekommen ist. Jedermann weiß, daß die Amerikaner dieses Land nicht allein aus seinen Schwierigkeiten herausführen können (...) Es geht darum, eine Meinung zu haben und zu wissen, was man Positives tun kann und welche Rolle Frankreich in dieser Region spielen kann" sagte er und fügte hinzu, daß der Irak von Frankreich "etwas erwarte".
    Mit anderen Worten: Frankreich verläßt die Irak-Politik, die es Anfang 2003 abrupt eingeleitet hatte. Oder vielmehr: Es verläßt die Nicht- Politik gegenüber dem Irak, die Haltung totaler Opposition und Verweigerung, die Schröder im Spätsommer 2002 begonnen und der sich Frankreich im Januar 2003 plötzlich angeschlossen hatte.

    Und zwar, nachdem noch im Sommer 2002 Frankreich offen gelassen hatte, ob es sich an einer US-geführten Invasion des Irak beteiligen würde. Sogar ein französischer General war schon - es stand danach im "Nouvel Observateur" zu lesen - in jenem Sommer in die USA entsandt worden, um die Details einer möglichen Einbeziehung vor allem der französischen Luftwaffe zu besprechen.



    Was die französische Regierung Chrirac- de Villepin dann veranlaßte, Anfang 2003 der deutschen Regierung Schröder- Fischer zur Hilfe zu eilen, die bis dahin mit ihrer anti- amerikanischen Politik isoliert gewesen war, das habe ich in einem früheren Beitrag zu analysieren versucht:

    Chirac und de Villepin sahen die Chance, den Traum de Gaulles zu realisieren, Deutschland aus der Allianz mit den USA zu lösen und es in die militärische und diplomatische Abhängigkeit von Frankreich zu führen. Als flankierende Maßnahme wurde alsbald der Bund mit Putins Rußland geknüpft; es entstanden die Umrisse einer Triple- Allianz auf dem europäischen Kontinent.



    Dieser große Entwurf Chiracs war keineswegs unrealistisch gewesen. Nur machte der Niedergang der rot- grünen Regierung den schönen Träumen ein Ende.

    Seither saß Frankreich, was den Irak anging, zwischen allen Stühlen.

    Die Kanzlerin Merkel hatte sofort wieder die Außenpolitik Adenauers, Brandts, Schmidts, Kohls aufgenommen: Gleiche Freundschaft mit den USA und Frankreich, gleiche Distanz zu beiden. Das war die Grundlage der deutschen Außenpolitik gewesen, bis Schröder und Fischer mit verstiegenen Ideen von Europa als einer "Dritten Macht" zu spielen begonnen hatten.

    Seither also hatte Frankreich seinen Einfluß auf den Gang der Dinge im Irak verloren, ohne dafür irgend etwas zu gewinnen. Es war das Debakel einer nationalen Selbstüberschätzung; wie auch auf der anderen Seite des Rheins, wo der Riesen- Staatsmann Fischer à la Bismarck mit allerlei Kugeln zu jonglieren versucht hatte.



    Sarkozy und Kouchner leiten jetzt eine vernünftige Politik ein, die aus diesem Debakel herausführen soll:

    Sie kooperieren wieder mit den USA, statt den Amerikanern im Verein mit Deutschland im UN-Sicherheitsrat gegenüberzutreten wie einst Gromyko. Und sie nehmen wieder die alten Interessen Frankreichs im Mittleren Osten wahr.

    Schließlich war Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg Mandatsmacht nicht nur des Libanon, sondern auch Syriens gewesen. Schließlich hatte es dem Irak einst sogar seine Mirage- Jäger geliefert.

    Die französische Diplomatie, immer noch eine der besten der Welt, kann viel dazu beitragen, eine Lösung für diese Region zu finden. Auch wenn - wie Katrin Bennhold schreibt - einige dieser Diplomaten skeptisch sind, was die Zukunft des Irak angeht.

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