22. Januar 2018

"Lieber Martin Schulz..." Ein Brieflein unter Freunden

Sehr geehrter Herr Schulz, sehr geehrter Herr Parteivorsitzender, lieber Genosse, ach was: lieber Martin - es ist wieder spät am Abend, und wie ich schon vor kurzem an dieser Stelle Deinem Parteigenossen Sigmar sagte, darf im Schutz der Dunkelheit und unter Freunden so manches Erwähnung finden, das im Licht des hellen Tages zwielichtig anmuten könnte. (Nein, es handelt sich hier um keinen Metaphernbruch - Rhetoriker - das sind Leute, die sich mit der Kunst des effektiven öffentlichen Sprechens befassen - sprechen von "Katachrese" - sondern um ein Oxymoron im erweiterten Sinn: so wie ein weißer Schimmel oder eine verantwortungsbewußt agierende SPD.) Nun haben sich also Deine Genossen auf dem gestrigen Parteitag in Bonn für den Weg in die erneute Großkoalition entschieden, mit einem Stimmverhältnis von 362 Weiter-So-Stimmen zu 279 Betriebsklimaleugnern. Wenn man die Vorstandsstimmen subtrahiert, sieht es spannender aus: 323 zu 313. Aber alles andere als ein Unentschieden bringt das Team eine Runde weiter.

Und nun wird, Undank ist der Welt Lohn, in den Sozialen Medien schon wieder gelästert. Bei Tichys Einblick sieht man die "Grenzenlosigkeit der verdummten Politik", auf der Achse des Guten spekuliert es kalauernd "Wie lange trägt die GroKO?" und überhaupt scheint selbst in den Netzportalen der großen Blätter niemand so recht glücklich mit eurem Aufbruch in die lichte Zukunft zu sein. Deswegen wird es Euch, Genossen, sicher guttun, wenn Ihr Zustimmung nicht nur aus den eigenen Reihen erfolgt, sondern auch aus dem gegnerischen Lager. Schließlich gehört es zum Komment erwachsener Politik, die Gegenseite, bei allem Dissens in der Sache, in Ausrichtung und vermuteter Problemlösungskompetenz, nicht pauschal zu verachten und für extra muros zu erklären.

Mich jedenfalls (es ist schlechte Form, in dieser Art von Netztagebuch unumwunden auf die eigene Person zu rekurrieren, zumindest in dieser Art von Wortspende - aber wir sind hier ja, wie gesagt, entre nous, on more familiar terms) freut Eure Entscheidung von Herzen. Daß sie so fallen würde, war seit dem Scheitern der "Jamaika-Gespräche" glasklar. Die Alternativen wären zum einen die Ausrufung von Neuwahlen gewesen, die Ihr, liebe Genossen, bestimmt scheut wie der Leibhaftige das Weihwasser - in der virtuellen Matrix-Welt der Umfrage-Kabbalistik seid Ihr heute auf 17 Prozent der Wählergunst gesackt. Und ich nehme an, daß man sich im Willy-Brandt-Haus einen weiteren Wahlkrampf mit den Frontleuten Ralf, Andrea und Maddin vorgestellt hat ("Jetzt tanzen alle Puppen / macht auf der Bühne Licht! Macht Musik, bis der Schuppen / wackelt und zusammenbricht. // Schmeißt Euch in Frack und Fummel / und Vorhang auf: Hallo! / Freut euch auf Spaß und Rummel / in der heutigen Schulzzugshow!") und sich erbleichend bei dreizehn Prozent gesehen hat. In der anderen Waagschale liegt die Chance, den Vizegottkanzler zu stellen und die kleinere Hälfte der Ministerposten zu besetzen. Alternativverfahren wäre die Verlängerung des gegenwärtigen Interims, Woche um Woche, Monat um Monat, in der sämtliche Amtsträger als Stellvertreter ihrer selbst agieren. Dergleichen wäre als Angebot zum Lernen für den Wahlmichel zu begrüßen - damit er endlich einmal aus eigener Anschauung begreift, daß es auch ohne Euch geht. Daß das Land weiterhin funktioniert, solange die Instanzen und Institutionen funktionieren, daß die Gesetze und Regularien ausreichen, und daß es für ein Gemeinwesen von exakt keinem Belang ist, von ahnungslosen wie aufgeblasenen Moralaposteln rund um die Uhr moralisch eingenordet zu werden. Tatsächlich, lieber Martin, ist das keine Aufgabe der Politik, nicht einmal der Medien. Der "mündige Bürger" (von dem einmal viel die Rede war, aber das ist lang her, und die Hauptstadt dieses Landes war noch Bonn) zeichnet sich eben dadurch aus, daß er dergleichen nicht benötigt und zu eigener Meinungsbildung in der Lage ist. Übrigens: das System der Öffentlich-Rechtlichen Medien ist zur "informationellen Grundversorgung" eben dieses Bürgers eingerichtet worden, nicht dazu, um im Tateinheit mit den politischen Akteuren nur eine einzige oktroyierte "Wahrheit" auf sämtlichen Kanälen unisono zu verkünden, abweichende Meinungen für unerlaubt zu erklären und störende Fakten zu verschweigen oder für irrelevant zu erklären. Und natürlich ist es auch so, daß das erwartbare Ergebnis von Neuwahlen - egal wie stark jene Partei, die nicht genannt sein soll, abschneiden würde - sich im Endergebnis dieselben Protagonisten sprachlos gegenübersitzen würden, in derselben Konstellation. Samuel Beckett hätte sich nicht träumen lassen, daß dieses Land einmal alle seine politischen Ressourcen darauf verwenden würde, das größte Stück, das er nie geschrieben hat, in Lebensgröße aufzuführen. Wir können Euch nicht abwählen, egal wo wir unsere Kreuzchen setzen, und wir können Euch nicht an die Macht wählen. Lieber Martin: ich bin kein allzugroßer Fan des "Philosophen mit der Bierwirtsphysiognomie", wie Schopenhauer Hegeln geschimpft hat: aber womöglich gibt es doch einen Weltgeist, und er hat einen rabenschwarzen Humor.

Es wäre auch optisch nicht "gut gekommen", wenn Ihr beiden, nach acht von zwölf Jahren trauter Gemeinsamkeit, nicht wieder zusammengefunden hättet, ohne daß sich irgendetwas zwischen Euch geändert hätte. Schließlich seid Ihr Genossen ohne jegliche Programmatik in den letzten Wahlkampf gestartet, ohne einen Grund zu nennen, WARUM man bitteschön Euch die Stimme geben sollte anstatt gleich das Original der Weltkanzlerin zu bestätigen - oder im Fall einer Ablehnung darauf vertrauen sollte, daß ausgerechnet Euch die Beendigung ihrer Ägide zuzutrauen sei. Wahrscheinlich haltet Ihr Eure Wählerklientel für mit dem Quast gepudert, und wahrscheinlich habt Ihr damit durchaus recht. Daß Du, lieber Martin, am Wahlabend kategorisch erklärt hast, für eine weitere Regierung Merkel nicht zur Verfügung zu stehen - ein Satz, den Du mehrfach bestätigt hast - ehrt Dich. Es zeigt, daß alte, traditionelle sozialdemokratische Reflexe noch nicht restlos entsorgt sind. Wer drei vorhergehende Landtagswahlen mit Bravour versägt und das schlechteste Wahlergebnis für seine Partei in der Geschichte dieser Republik eingefahren hat, als das einzige Aushängeschild, der einzige Punkt, der soll auch dazu stehen. Das sind die Spielregeln: game over, mich wollte man nicht, ich nehme die Leute, die so dumm waren, mich mit 100 Prozent zu nominieren, aus der Schußlinie. Leider hat es bei Dir nicht zu der personellen Konsequenz gereicht, die dieses Manöver überhaupt erst beglaubigt hätte. Unterhalte Dich bitte mit alten verbliebenen Kämpen wie etwa Björn Engholm (unter uns gesagt: der letzten Person in Eurem Verein, die - ungeachtet ihrer tatsächlichen Tauglichkeit - diese Art von persönlicher Souveränität ausgestrahlt hat). Immerhin: welches ist der abgestandenste Spruch, mit dem man Euch alten Sozen so lange gekommen ist, daß er Euch nicht einmal mehr sachte den Pelz jucken kann? "Wer hat uns verraten? - Sozialdemokraten!" Dieser Spruch war immer etwas ungerecht, da er sich auf die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten bei Anbruch des Ersten Weltkriegs bezog (das, lieber Martin, war 1914), und später auf die Niederschlagung der "Novemberrevolution" nach dem Ende dieses fröhlichen Treibens vier Jahre später. Da kam das aus der Ecke des Spartakusbundes und hieß: "Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer macht uns frei? Die kommunistische Partei!" Das war historisch schief: die kleinen Arbeiter (ja, Martin, deren Interessen hat Deine Partei sogar mal vertreten) waren es ganz zufrieden, daß ihnen die Räterepubliken und die unausweichlich nachfolgende Sowjetregierung erspart geblieben waren. Wie jemand einmal lakonisch feststellte: Was wäre im Fall des Sieges von Liebknecht, Luxemburg und Konsorten die Folge gewesen? Wir hätten fünfhundert Kilometer Stasiakten zu sichten anstatt derer zweihundert. So aber darf nun endlich, angesichts Deiner überdeutlichen Illustration des "Was kehrt mich mein Geschwätz von gestern?!" der Satz mit gutem Gewissen gegen Dich und die Deinen Anwendung finden, in beliebiger Dosis.

Ich gebe auch zu, daß Euer Verein, entre nous soit dit, ein gewisses Personalproblem an der Führungsspitze hat. Dich einmal ausgenommen, den man sich durchaus als Prokuristen einer Firma unterhalb der Mittelschicht vorstellen kann - Hand aufs Herz: welchen Herrn, welche Dame aus der Riege um Dich herum würdest Du, als Personaler einer Firma, deren Prosperieren Dir am Herzen liegt, anheuern? Ich fürchte, Euch Genossen bleibt nur die Politik - und da ist es besser, an der Spitze mitzutun, als eine Opposition zu mimen, die man Euch sowieso nicht abnehmen würde, weil Ihr die Desaster, die diesem Land und den Schonlängerdarinbefindlichen alternativlos übergekübelt worden sind, mitgetragen und mitverantwortet habt. Nur weil Ihr die Oppositionsführerschaft der AfD nicht gönnt. Nein: so könnt Ihr Euch nun nicht mehr aus der Verantwortung schleichen, wenn die Dynamik des Versagens, die Folgen dieser einzigartigen Verantwortungslosigkeit, in den kommenden Jahren in den Himmel wächst. Wenn sich zeigt, daß alle Versuche, das Anwachsen der Gewalt, den Verlust der öffentlichen Sicherheit, das Explodieren der Folgekosten zu stoppen, auch nur ansatzweise zu begrenzen, Sand gegen den Wind sind, daß die Geister, die Ihr gerufen habt, im Verein mit Eurer Zauberlehrlingsmutti, das nicht einmal bemerken werden. Schweden läßt grüßen.

Und es ist gut, daß Euch nichts weiter bleibt als die leeren Sprüche, das "Sollen", das Fordern nach Konsequenzen, und das dröhnende hohle, inhaltsfreie Pathos von "Europa", das Ihr umstandslos mit der "EU" gleichsetzt, ohne zu merken, daß Ihr damit alles, was dieses alte Europa auszeichnete, was es groß gemacht hat, seine Kultur, seinen Erfolg begründet hat, mit Füßen tretet. (Ganz nebenbei, lieber Martin und Ihr anderen: diese Kultur, diese Tradition bestand immer darin, daß die Besten sich, egal wo sie sich befanden, zu welcher Zeit sie lebten, im Gegensatz zur herrschenden Meinung, zum Mainstream, zum Oktroi des Du-Sollst-aber befanden: von den Humanisten des Italiens der Frührenaissance über die französischen Aufklärer wie Voltaire und Montesquieu, über die russischen Denker des neunzehnten Jahrhunderts, ob Lev Tolstoi oder Alexander Herzen, bis zu den deutschen Romantikern und den italienischen, denen es um die Erlangung eines eigenen geeinten Staates neben dem Blick zurück auf eine eigene Kultur ging (deren Gegenwart sie, nota bene, zu ihrer Zeit als unlebendig, tot, empfanden). Egal ob "progressiv", ob "konservativ": die Gegnerschaft zu ihrer Zeit - und zu allem, wofür Eure Klasse, "eure EU" stehen - eint sie. Nicht wer Eurem, halten zu Gnaden, leeren Gerede lauscht, ist ein guter Europäer, sondern wer dagegen aufbegehrt und den Stab über Euch und Euer Treiben bricht.) Und ja: der Nationalstaat gehört zu diesem Europa, sogar (sogar? in ganz besonderem Maße!) für einen Politiker wie Charles de Gaulle, auf den Ihr Euch heute, zum 55. Jahrestag des Abschlusses der Elysée-Verträge, so wortreich im Bundestag berufen habt. Wie denn auch nicht? Kennt Ihr den Spruch: eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied? Wie kann man auf den Gedanken verfallen, die Aushöhlung nationaler Souveränität, die Delegierung elementarer staatlicher Hoheitsaufgaben, letztendlich der Delegitimierung des nationalstaatlichen Souveräntät und Identität, führe zu einer Stärkung transnationaler Gebilde, sei ein Garant für "Frieden", für Wohlstand und den Primat des Marktes? (Nein, versuch nicht, eine Antwort zusammenzustoppeln. Es handelt sich um das, was Rhetoriker - das sind Leute, die sich mit der Kunst des effektiven öffentlichen Sprechens befassen - als "rhetorische Frage" bezeichnen.) Spätere Historiker werden in der Aufladung des "Europagedankens" der unmittelbaren Zeit nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, als diese Floskel nach dem Scheitern der terroristischen deutschen Diktatur alle utopischen Energien in sich bündelte, einmal den ersten Keim ihres jetzigen Scheiterns ausmachen.

Und da in diese Dynamiken, die wir hier am Werk sehen - nein: nicht in Eurem gesichtslosen Versagen, in dem Kindertheater, das ihr auf der Agora der Medien und der Parlamente aufzuführen beliebt, sondern in dem, was unser Leben bestimmt, bestimmen wird, bestimmen wird, was uns die Zukunft nimmt und die Luft zum Atmen (nein, das ist nicht wörtlich gemeint, das ist eine Metapher) - niemand eingreifen kann, sie niemand aufhalten wird, weil dergleichen nicht menschenmöglich ist, selbst wenn wir die Ressourcen dazu hätten und ruchlos genug wären, sie in Anschlag bringen zu können - wir sind es nicht - bleibt uns nur das sprichwörtliche Liegestühlerücken auf der Titanic. Es paßt, daß Ihr und Euresgleichen weiterhin so tun könnt, als würde Euer Gekasper auf der öffentlichen Bühne irgendetwas bewirken, einen winzigen Unterschied machen. Das tut es nicht. (Das würde es übrigens auch nicht,  falls die Partei Voldemort wider alles Erwarten eine absolute Mehrheit erringen würde - ohne die ihr keine direkte politische Wirkung zuwachsen wird.) Ist es nicht ironisch, daß derjenige, der darauf aufmerksam gemacht hat, der eine so nüchterne wie schonungslose Bilanz dieser Entwicklungen vorgelegt hat, aus Euren Reihen stammt? Ich spreche, bien sur, von Thilo Sarrazin.

Ach ja, ein letztes: bitte richte einen herzlichen Dank an die Andrea, Madame Bätschi, aus. Sie ist die fleischgewordene Inkarnation des Niveaus, das die Partei Willy Brandts und Helmut Schmidts mittlerweile erreicht hat. Heute nun hat sie angekündigt, "zu verhandeln, bis die Gegenseite quiekt". Gehe ich recht in der Annahme, daß sie das durch ihre seit Monaten täglich praktizierten Applikationen "in die Fr***e" erreichen möchte? Spätere Historiker werden sich, wie gesagt, einmal über den Verlauf des Endphase dieses seltsamen Gebildes namens Deutschland beugen, und in solchen Erscheinungen zumindest ein Symptom für die Gründe erkennen, warum es sich in der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts aus der Geschichte verabschiedet hat. Kaiser Caligula ernannte sein Pferd Incitatus zum Senator (sofern wir den Historikern Sueton und Cassius Dio Glauben schenken dürfen); die zweitgrößte Partei dieser Republik, die immerhin drei der bislang acht Kanzler gestellt hat, verlustiert sich, in dem sie Pippi Langstrumpf als Generalsekretärin und jetzige Fraktionsvorsitzende bestallt. Immerhin wird uns die Geschichte bescheinigen, daß Guido Westerwelles Verdikt von der "spätrömischen Dekadenz" unangemessen war, da wir deren fatale Verfehlungen und Irrungen (so imaginär sie sein mögen; die unseren sind absolut real und empirisch abprüfbar) locker in den Schatten stellen, vom Willkommenheißen der Barbaren über Sprech- und Denkverbote, über das Verderben der Kinder im Auftrag der Staates, der Verluderung der Legionen und dem Anbeten falscher Götzen, die etwa über das Wetter gebieten - nicht als Privatvergnügen, sondern als Staatsreligion. Daß auch Ihr bei diesem Gespensterreigen unbeirrbar und standfest Euren Part gebt, so sehr es eure Bresthaftigkeit erlaubt, auch dafür 

谢谢你们。









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Ulrich Elkmann

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