19. August 2017

Selbstdemontage. Samt einer Coda von fremder Hand

Es gibt Vorkommnisse, öffentliche Selbstdemontagen, zu denen sich jeder Kommentar erübrigt. So gestern bei dem Statement, das der Kanzlerkandidat der SPD, Marin Schulz, am Freitag morgen zum Massaker in Barcelona vor den Kameras der Weltöffentlichkeit ablieferte.




Zwei kurze Anmerkungen nur dazu: Bitte betrachten Sie diesen audiovisuellen Offenbarungseid zweimal hintereinander. Zum einen mit Augenmerk auf den Kandidaten. Welche blutleeren Phrasen er in die Kamera stammelt, mit welchen hilflosen Versatzstücken aus dem Baukasten der wohlfeilen Betroffenheitsfloskeln - "bestürzt traurig und wütend zugleich" hier Massenmord und die Kriegserklärung einer mordenden Gewaltideologie untermalt werden: kein Wort zu den Ursachen, kein Ansatz, dem ein Ende zu setzen. Ja: das ist nicht der Moment, so etwas zu konkretisieren. Aber es fällt, wieder und wieder, ins Auge, daß unsere Politik, sowohl die deutsche, noch die EU-ropäische, nichts anderes mehr zu bieten hat als die ewiggleichen Phrasen: wir ließen uns unsere Lebensweise nicht nehmen, wir weichen nicht zurück, wir stehen zusammen, wir sind in Gedanken bei X, Y, oder Z. Wir leuchten ein paar Steine, die uns als hochsymbolisch erscheinen, bunt an. Wogegen nichts zu sagen wären, würde nicht überdeutlich damit auch gesagt: Und das war es auch schon.

Pars pro toto hat Henryk Broder auf der Achse des Guten die Leerformeln gesammelt, mit denen die politische Führung dieses Landes solche Störungen ihres sinnfreien Leerlaufs quittiert:

Thomas de Maiziere: In tiefer Trauer bin ich bei den Opfern und deren Angehörigen. Unsere Solidarität gilt dem ganzen spanischen Volk.
Sigmar Gabriel: Wir stehen zusammen, wir werden uns nicht dem Terrorismus beugen, er wird uns nicht entzweien.
Michael Müller: Ich bin tief erschüttert, dass es schon wieder einen entsetzlichen terroristischen Anschlag mit einem Fahrzeug gegeben hat. Ich weiß, dass sich die Menschen in einem Schock befinden, und wünsche ihnen viel Kraft, sich daraus zu befreien und dem Terrorismus nicht den Sieg über unsere freie und offene Lebensart zu geben.
Martin Schulz: Geschockt und wütend über Nachrichten aus Barcelona. Ein feiger Anschlag auf unsere Werte! Meine Gedanken sind bei Opfern und Angehörigen.
Angela Merkel: Diese mörderischen Anschläge haben uns erneut vor Augen geführt, mit welch vollständiger Menschenverachtung der islamistische Terrorismus vorgeht... Diesen Mördern werden wir nicht gestatten, dass sie uns von unserem Weg abbringen, von unserer Art zu leben...Der Terrorismus kann uns bittere und tieftraurige Stunden bereiten, aber besiegen kann er uns nie.

Danach lassen Sie bitte, lieber Leser, das Video ein zweites Mal, mit ausgeschaltetem Ton, auf sich wirken. Erst beim zweiten Durchgang entfaltet die Decouvrierung des sozialdemokratischen Personals seine volle Wirkung. Bei dem Girlie rechts hinter dem Kanzlerkandidaten handelt es sich um Eva Högl, Mitglied des Deutschen Bundestages, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und momentan die Nummer 1 als Direktkandidatin auf der Landesliste der Berliner SPD. Wir sehen hier keinen erwachsenen Menschen, sondern eine komplett auf sich selbst zentrierte - ich bitte um Entschuldigung für den harten Ausdruck -  Göre, die keine volle Minute lang von ihrem kleinmädchenhaften Gebaren Abstand nehmen kann. Ja: solche Betroffenheitsrituale, wie sie sich "der Kandidat" hier abringt, sind nichts weiter als dies: leere Rituale, ohne jedes persönliche Einstehen. Aber genau darin besteht ihr Zweck: ein gewisses Dekorum zu wahren, eine Fassade. Und damit zu demonstrieren, daß es diese Form eben gibt, daß man für diesen kurzen Zeitraum sich ihr unterordnet. Was hier zudem vorgeführt wird, ist eine Anwärterin auf politische Würden, und zwar in der Spitzenposition, der das, was der Spitzenkandidat der eigenen Partei, der direkt vor ihr zur Öffentlichkeit spricht, vollständig gleichgültig ist, die sich nicht dazu bequemen kann, dessen leeres Geschwätz auch nur für einen Augenblick zur Kenntnis zu nehmen. Früher wurde solchen geistig Achtjährigen Kindern von den Eltern unzweideutig "der Kopf gewaschen", wenn sie sich bei ernsten Gelegenheiten, etwa bei Beerdigungen, in dieser Weise daneben benahmen. Heute ist dergleichen 48 Jahre und hat den Vorsitz in Untersuchungsausschüssen des Bundestags inne (im Fall Högls sind dies der zweite "Untersuchungsausschuß zur sog. Edathy-Affäre" sowie der Sportausschuß).

Daß Frau Högl in ihrem Verständnis von Pietät und angemessenem Betragen bei den Genossen nicht allein ist, demonstrierte gestern morgen freilich auch der Spezialist fürs Unterirdische. Ralf Stegner postete gestern morgen auf seinem Facebook-Profil folgenden Eintrag:


Ralf Stegner

Gestern um 09:39
Guten Morgen.
Wieder ein furchtbarer Terroranschlag. Mein Mitgefühl gilt den Opfern und ihren Familien und Freunden.
Die Demokratie darf vor dem Terrorismus niemals zurückweichen!
Für mich geht es nun in die Schlußkurve von den Shetlandinseln über das norwegische Bergen zurück nach Schleswig-Holstein.
Mein Musiktipp für Euch da draußen im digitalen Orbit ist von
Dougie MacLean - "Caledonia"
Schönen Freitag ;-)

Man kann solche Sachwalter unserer wehrhaften Demokratie im Angesicht von Terror und Tod mit Wählerstimmen honorieren. Man muß es nicht.

*     *     *

PS. Frau Högl hat sich mittlerweile, angesichts des desaströsen Eindrucks, den ihr Auftritt hinterlassen hat, zur einer Erklärung veranlaßt gesehen. Auf ihrer persönlichen Netzseite liest sich das so:

Es entsetzt mich und macht mich betroffen, dass aufgrund eines unglücklichen Filmausschnitts von mir während eines Pressestatements von Martin Schulz zum Terroranschlag in Barcelona ein falscher Eindruck entsteht. Ich entschuldige mich dafür – bei allen, die mein Verhalten in diesem Ausschnitt verunsichert hat. (Nicht bei den Hetzer*innen der AfD, die ständig danach suchen um weiter zu hetzen. Denen sind meine Erklärungen sowieso egal.)
Zum Hintergrund: Wir waren zu einem extrem fröhlichen Anlass zusammengekommen. Ein Denkmal für Marie Juchacz, eine große Sozialdemokratin, die Gründerin der AWO, die Frau, die das Frauenwahlrecht 1918 erkämpft hat, die 1919 als erste Frau eine Rede im Reichstag gehalten hat. Eine Frau, auf die die SPD sehr stolz ist. Wegen des Anschlags in Barcelona haben wir selbstverständlich auf Musik verzichtet und in einer Schweigeminute der Opfer gedacht.
Zur Situation: Niemand von denen, die bei seinem Pressestatement hinter unserem Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Martin Schulz standen, konnte zunächst hören, dass er über Barcelona spricht. Ich habe unseren Innensenator Andreas Geisel im Publikum gesehen und ihm zugewunken und ihm mit Gesten bedeutet, zu uns nach vorne zu kommen, weil er später auch reden würde. Erst nach einigen Sätzen haben wir, die hinter Martin Schulz standen, hören können, dass er über den schrecklichen Anschlag von Barcelona spricht.
http://www.eva-hoegl.de/2017/08/19/persoenliche-erklaerung/

Ich werde mir das "si tacuisses" sparen. Wer eine Entschuldigung für sein unmögliches Betragen - ohne die leiseste Betretenheit ob des Fauxpas - zum Anlaß nimmt, um im gleichen Atemzug gegen die "Hetzer*innen der AfD" Stimmung zu machen, beweist nur daß er/sie/es keinerlei von den Verhaltensregeln hat, die man zuvor lustvoll mit Füßen getreten hat.

*****
Nachschrift, 22. August 2017, 23:50.

Alexander Wendt, Autor bei der Achse des Guten (und Verfasser von "Der grüne Blackout", einem Vademcum zu den Folgen der "Energiewende") hat heute auf seiner Facebook-Seite einen Text zur Causa Högl veröffentlicht. In den knapp vier Stunden seit Einstellen ist dieser Text mehr als 2500 Mal geteilt worden, d.h., andere Facebook-Nutzer haben sich davon angesprochen gefühlt, ihn auf das eigene Profil zu übernehmen. Dies ist das Phänomen, wenn man auf neudeutsch von einem Netzbeitrag sagt, er "würde viral". Da der Beitrag auf "öffentlich" gestellt ist, also jedermann frei lesbar, auch wenn man nicht bei FB angemeldet ist, da der Zweck des sozialen Netzwerks die Verbreitung solcher Texte ist, und da der Verfasser meine Gedanken und Ansichten in einer Weise ausdrückt, die mir in dieser Prägnanz nicht zu Gebote steht (was augenscheinlich auch viele Facebook empfinden), erlaube ich mir, seine Einlassungen im Folgenden ungekürzt wiederzugeben.

https://www.facebook.com/alexanderswendt/posts/1974533752816969

Liebe Eva Högl, wahrscheinlich wissen Sie es schon: ich bin derjenige, die die kurze Sequenz aus dem Video eines österreichischen Senders abgefilmt und online gestellt hatte, in der sie fröhlich winken und den Mund aufreißen, während Martin Schulz vor Ihnen versucht, seine Textbausteine zu dem IS-Massaker von Barcelona einigermaßen zu sortieren. Nein, ich hatte am letzten Freitag nicht geglaubt, dass fast 700 000 Leute mein Video aufrufen würden. Offenbar trifft es also bei sehr vielen einen Nerv. Und zwar völlig unabhängig davon, ob die Leute Ihre Erklärung für plausibel halten oder nicht, Sie hätten anfangs nicht verstehen können, was Ihr Parteivorsitzender sagte. Nach einigen Minuten konnten Sie es offensichtlich doch, jedenfalls setzten Sie dann ein staatstragendes Gesicht auf. In Ihrer selbstexkulpierenden Erklärung hatten Sie übrigens schon im ersten Absatz etwas über "Hetzer*innen" und die AfD geschrieben. Ich weiß nicht, ob Sie mich damit meinen. Ich gehöre keiner Partei an, und das Posten eines Videos, auf dem Sie herumhampeln, wird man schwerlich als Hetze bezeichnen können.

Aber zurück zum eigentlichen Punkt: warum treffen diese 20 Sekunden den Nerv so vieler Menschen? Weil manche Bilder Wahrheitsbilder sind, die hochkonzentriert einen Zustand zeigen. Sehr, sehr viele Menschen - wie Leute Ihres Berufsstandes sagen: die Menschen draußen im Land - ertragen die Trauerphrasen nach jedem islamischen Anschlag nicht mehr, die gespielte Bestürzung, die ausgiebige Schilderung des Leids, die Versicherung, jetzt dürfe sich die Gesellschaft nicht spalten lassen - als ob das nicht schon längst passiert wäre - , sie ertragen die allfällige Feststellung nicht mehr, gegen den Terror gebe es nun einmal kein Mittel, es gebe "keine absolute Sicherheit". Nach einer absoluten Sicherheit fragt niemand. Eine relative Sicherheit würde den allermeisten schon genügen. Also: Ein Stopp der ungeregelten Einwanderung von papierlosen jungen Männern, die in ihrer übergroßen Mehrheit niemand politisch verfolgt. Eine Abschiebung aller 500 000 abgelehnten Asylbewerbern mit allen Mitteln des Rechts, auch der Abschiebehaft. Eine Schließung aller salafistischer Moscheen. Die Anwendung des Paragraphen 129 a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) auf alle so genannten Gefährder. Präventivhaft. All das ist nach der Rechtslage nicht nur möglich, sondern sogar geboten. Und es ist Sache von Politikern wie Ihnen, diese größte relative Sicherheit durchzusetzen. Sie sind stellvertretende Vorsitzende einer Regierungsfraktion. Und was tun Sie? Nach dem Massaker von Paris hielten Sie eine Rede im Bundestag, in der Sie verkündeten, die Schließung der Grenze für wohlgemerkt illegale Einwanderung - um etwas anderes geht es gar nicht - müsse auf jeden Fall unterbleiben, alles andere wäre "ein Kniefall vor den Terroristen und Terroristinnen". Würden Sie in Fragen der ganz normalen Lebenssicherheit von ganz normalen Menschen den gleichen Eifer wie beim Gendern an den Tag legen, wäre das schon ein Schrittchen in die richtige Richtung.

Ich habe mir in den letzten drei Tagen auf Ihrer Facebookseite angesehen, was Sie, Frau Högl, als Abgeordnete tun. Sie winken sehr viel. Sie schütteln Hände. Sie wünschen Musliminnen und Muslimen einen schönen Ramadan. Sie treffen sich mit den Mitgliedern irgendwelcher Vereine, Sie weihen Denkmäler ein. Und Sie ermahnen die Bürger unentwegt zum friedlichen Zusammenleben.

Wissen Sie was, Frau Högl: das zivile Zusammenleben bekommen die Bürger und Bürgerinnen ganz gut allein hin. Alles, was sie dafür brauchen, ist ein Staat, der die Einhaltung von Recht durchsetzt, der eine menschenmögliche Sicherheit garantiert, ordentliche Verkehrswege und gute Schulen. Dafür ist tatsächlich der Staat zuständig und niemand anderes. Dafür zahlen nicht alle aber doch ziemlich viele Bürger Steuern. Sie, Frau Högl, sind Spitzenkandidatin der SPD Berlin, Sie wirken also sehr weit oben in dem Landesverband der Partei mit, die Berlin seit ewigen Zeiten regiert. Ich weiß nicht, ob Sie sich dafür interessieren: aber Berlin ist die unsicherste Großstadt Deutschlands. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind miserabel. Steigen Sie einmal in Lissabon oder Singapur in eine U-Bahn, wenn Sie wissen wollen, wie Nahverkehr im 21. Jahrhundert aussieht. Die Berliner Schulen zählen anerkanntermaßen zu den schlechtesten des Landes. Kurzum: alles, wofür Sie und andere Politiker tatsächlich Verantwortung tragen, liegt im elenden Zustand darnieder. Als Politikerin beschäftigen Sie sich stattdessen ausschließlich mit Dingen, die Sie nichts angehen. Auf allen Feldern, die Angelegenheiten des Staates sind, sagen Sie entweder nichts. Oder, im Fall der gesetzlich vorgeschriebenen Grenzsicherung, dass es nicht geht.

Und dazu kommt noch ein zweiter Punkt, der mehr und mehr Menschen auffällt, und der sie wütend macht: Sowohl der islamische Terror - Sie wissen schon, die Terroristen und Terroristinnen - als auch die eingewanderte Alltagskriminalität: beides trifft Normalbürger und nicht Politiker. Politiker wohnen auch außerordentlich selten in den gründlich verbunteten Vierteln wie Moabit oder dem Essener Norden. Ihre Kinder gehen nicht auf Schrottschulen. Politiker sind nicht auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Auch nicht auf das gesetzliche Rentensystem.

Genau diese Dinge schießen in dieser Videosesquenz zusammen, in der Sie lachen und quietschen, als würden Sie auf einem Karnevalswagen stehen und Kamelle schmeißen, während der SPD-Chef Sätze ineinanderschachtelt, die auf den Punkt zulaufen: traurig das alles in Barcelona. Aber leider nichts zu machen. Sie, Eva Högl, sind die Inkarnation der in einer Partei aufgestiegenen Gschaftlhuberin, die unentwegt irgendwo zugegen ist, sich zu Wort meldet, Pressemittelungen herausgibt, ihr Gesicht in die Kamera hält und ansonsten die Arbeit als Mitglied eines Verfassungsorgans verweigert. Sie sind, das haben Sie mit Ihrem Auftritt geschafft, ein ikonografischer Typus für die spätrömische Phase der bundesdeutschen Demokratie geworden. Dieses Status kann Ihnen keiner mehr nehmen.

Mit besten Grüßen, Alexander Wendt



U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.