19. Juni 2017

"Morgen in der Stadt" (1709), 討厭的早晨 (1944)



Jonathan Swift - "A Description of the Morning" (1709)

Now hardly here and there a hackney coach
Appearing, showed the ruddy morn's approach.
Now Betty from her master's bed had flown,
And softly stole to discompose her own.
The slipshod 'prentice from his master's door,
Had pared the street, and sprinkled round the floor.
Now Moll had whirled her mop with dext'rous airs,
Prepared to scrub the entry and the stairs.
The youth with broomy stumps began to trace
The kennel edge, where wheels had worn the place.
The smallcoal-man was heard with cadence deep,
Till drowned in shriller notes of chimney-sweep.
Duns at his lordship's gate began to meet;
And Brickdust Moll had screamed through half a street;
The turnkey now his flock returning sees,
Duly let out at nights to steal for fees.
The watchful bailiffs take their silent stands;
And schoolboys lag with satchels in their hands.




„Morgen in der Stadt"

Ein lautes Droschkenrumpeln zeigt jetzt dann und wann
Des Morgens rosenhelle Ankunft an.
Betty stiehlt sich fort aus ihres Meisters Pfühlen
Und schickt sich an, die eignen zu zerwühlen.
Der Stift hat von der Tür den Schmutz gefeilt
Und schlampig quer durchs Vestibül verteilt.
Moll dirigiert den Mop mit großer Geste
Und schrubbt den Eingang und die Treppe feste.
Der Ladenschwengel fegt mit kurzem Besen dort
Verschlammte Wagenspuren aus dem Rinnstein fort.
Die Baßstimme des Kohlenhändlers dröhnt
Bis ihn der Schornsteinfeger schriller übertönt.
Gläubiger scharen sich vorm Herrenhauseingang
Und Moll bölkt „Ziegelstaub!" die halbe Straße lang.
Dem Wachmann kehrn die Schäfchen heim in ihr Verlies
Die er des Nachts auf Diebstour ziehen ließ.
Büttel beziehen ihre Plätze längs den Wänden
Und Schuljungs trödeln, Ranzen in den Händen.
(Versnachbildungversuch: U.E.)

Jonathan Swift (1667-1745), der irische Satiriker, Autor und Dechant der Kathedrale von St. Paul's in Dublin, dessen dreihunderfünfzigster Geburtstag am 30. November ins Haus steht, war nicht nur der Verfasser von Travels into Several Remote Nations of the World in Four Parts By Lemuel Gulliver, first a Surgeon, and then a Captain of Several Ships von 1726 heute allgemein als Gulliver's Travels geläufig, der anonyme Autor der Drapier`s Letters, der Tuchhändlerbriefe, mit denen 1724-25 das Projekt des Verkaufs des irischen Münzmonopols der englischen Kolonie, die Irland damals war, gekippt wurde; auch nicht nur der Kopf hinter den längeren Satiren der Bücherschlacht (The Battle of the Books, 1704) und des Tonnenmärchens (A Tale of a Tub, 1704), in denen der damalige Streit um den Modellcharakter der Antike gegenüber dem Fortschritt der Moderne, die Querelle des Anciens et des Modernes, und der ewige Streit zwischen den christlichen Konfessionen aufs Korn genommen wurden. Ein kleiner, aber nicht unfeiner Teil seines Œuvres umfaßt Gedichte, von den Geburtstagsgedichten für Esther Johnson, "Stella" genannt (1681-1728), über die "Windsor Prophecy" von 1711 - ein scharfer Angriff gegen die Duchess von Somerset, persönliche Confidante der englischen Königin Anne, deren Einfluß auf die Fortsetzung der englischen Beiteiligung am Spanischen Erbfolgekrieg Swift für fatal hielt, und der ihn die lang gehegten Hoffnungen auf einen Bischofssitz des Anglikanischen Kirche in England kostete - bis hin zu den "Verses on the Death of Dr Swift" von 1731, den 484 Zeilen des wohl größten Autonekrologs der englischen Literatur, in dem er (satirisch, wie sonst), die Reaktionen der nahen und fernen Mit-Mehr-Mitwelt auf seinen Abgang von der Weltenbühne ausmalt. "He gave what little wealth he had / To build a house for fools and mad. / And showed by one satiric touch, / No nation wanted it so much."

"A Description of the Morning" erschien zuerst am 30. April 1709 in der Nr. 9 des Tatler, der kleinen Zeitschrift, mit der Swifts Freund und Bekannter Richard Steele eine neue Art der Publizistik, der öffentlichen Medien begonnen hatte - ohne dies zu beabsichtigen. Nach dem Streit um Pressefreiheit und Copyrightschutz des vorausgegangenen zwanzig Jahre, nach dem Verzicht auf die Freigabe durch staatliche Vorabzensur und den Schutz der Autoren gegen die sich verleumdet fühlenden Objekte ihrer Auslassungen (und vice versa) brauchte es noch einige Zeit, bis die Idee eines individuellen, ideosynkratischen Blattes entstand. Der Tatler war keine Zeitung, mit ihrer Ausrichtung an Tagesnachrichten; wenn Neuigkeiten darin einflossen, waren sie Gegenstand von Reflektion, von Einordnung in einen größeren Kontext; maßgeblich waren auch die Interessen des Autoren - oder in diesem Fall der "Persona", der Maske der vorgeblichen Verfassers, Isaac Bickerstaffe, Esquire, unter dessen Namen die Mitglieder des Scriblerus Club, des literarischen Kaffeehauszirkels - wie eben Swift, Steele und Joseph Addison - ihre satirischen Kommentare zu Zeitgeschehen und Zeitgenossen veröffentlicht hatten. Dieses Modell galt dann auch für spätere Unternehmungen dieser Art, wie dem Examiner oder dem Spectator (1711-1714), dem Nachfolgeprojekt des Tatler von Steele und Addison. Das Format all dieser Publikationen war etwas kleiner als die uns geläufige DIN-A4-Norm; der Satzspiegel war klein und zweispaltig; jede Nummer umfaßte vier Seiten. Im Fall des Tatler erschienen drei Nummern pro Woche; das Lesepublikum waren die Besucher der Londoner Kaffeehäuser, die das als Lektüre auslegten, um für Besucher attraktiver zu sein. Steele machte kein Geheimnis daraus, daß es ihm dabei durchaus auch um moralische Handreichungen ging.

"Though the other papers which are published for the use of the good people of England have certainly very wholesome effects, and are laudable in their particular kinds, yet they do not seem to come up to the main design of such narrations, which, I humbly presume, should be principally intended for the use of politic persons, who are so public spirited as to neglect their own affairs to look into transactions of State. Now these gentlemen, for the most part, being men of strong zeal and weak intellects, it is both a charitable and necessary work to offer something, whereby such worthy and well-affected members of the commonwealth may be instructed, after their reading, what to think; which shall be the end and purpose of this my paper: wherein I shall from time to time report and consider all matters of what kind soever that shall occur to me, and publish such my advices and reflections every Tuesday, Thursday, and Saturday in the week for the convenience of the post."

lautet der erste Abschnitt der ersten Nummer vom 12. April 1709. Ungebunden, nur den eigenen moralischen Urteilen verpflichtet, dabei durchaus eine festgelegte Parteilinie vertretend, ohne durch Mitgliedschaft in ihr dazu verpflichtet zu sein, und als Kommentar zu den Aufgeregtheiten der Tagespolitik: dieses Muster findet sich dann später im 18. Jahrhundert im Deutschen in den "moralischen Wochenschriften" von Jacobi über Johann Peter Hebel bis Matthias Claudius' Wandsbecker Boten (der auch die Fiktion des als naiv präsentierten Verfassers übernimmt). Und dieses Muster wird in vielen Netztagebüchern des 21. Jahrhunderts wieder aufgenommen - nicht zuletzt in diesem hier.

"A Description of the Morning" ist eine der ersten Reflektionen der neuen, großstädtischen Lebenserfahrungen in der Literatur (neben John Gays zeitgleichen "Trivia", in denen sich, pace Baudelaire und Walter Benjamin, pace auch Franz Hessel und Léon-Paul Fargue, sämtliche Tropoi des Flanierens und des Blicks, zumal des nächtlichen, des Blicks des Flaneurs auf das Stadtleben finden), ironisch gebrochen. Die Ekloge in ihrer ursprünglichen antiken Form etwa bei Vergil evoziert eine idyllische Landschaft; hier findet sich nun eine Szenerie, die, besonders nach dem an antiken Mustern ausgerichteten Urteil des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, dem dichterischen Bemühen nicht würdig ist. Ebenso gibt es aber seit der Antike die Tradition, satirische Effekte dadurch zu erzielen, daß "Gegenstände, die des Preisens nicht würdig" sind, in den Fokus der poetischen Aufladung genommen werden. Erasmus von Rotterdams Lob der Torheit, laus stultutiae, ist da nur das bekannteste Beispiel. Der "ruddy morn" ist ein solch kleiner Gruß zur gehobenen Diktion des klassischen (oder klassizistischen) Idiom hinüber an die "rosenfingrige Eos", wie auch die prosaischen Hackney coaches, die Mietdroschken, die den Gesang der Lerchen im klassischen Vorbild ersetzt haben. Über die "Brickdust Moll" gibt des unter den Swiftianern (oder Prestophiles) zwei Auffassungen: ist dies der Spitzname jener bestimmten Moll, oder hat sie ihre Hökerware ausgerufen - in welchem Fall man sich die Gänsefüßchen dazu denken sollte? Der Ziegelstaub oder das Ziegelmehl fand vor allem als Scheuermittel Verwendung (und reiht sich damit in die Motivkette des Besenschwingens und Kaminkehrens ein). Bei den Schließern oder Gefängniswärtern war es üblich, daß sich Strafgefangene Hafterleichterungen gegen Geldzuweisungen erkaufen konnten; um es sich beschaffen zu können, wurde ihnen oft - gegen alle Bestimmungen natürlich - nächtlicher Ausgang erlaubt; der ebenso natürlich oft ins Kriminelle ausmündete.

*****

Richtig überraschend kommt es einen an, wenn man eine Reprise genau dieser Motive, dieser Umkehrung der üblichen Bezüge, an einer Stelle antrifft, an der man es am wenigsten erwartet hätte. Nämlich im China von vor 70 Jahren. Genauer: im Shanghai des Jahres 1944. Zu den größten Stars des Shidaiqu, des modernen Pop- (oder, den Verhältnissen der Zeit entspechend: Jazz)-Amalgams mit chinesischen Texten gehörte 周璇, Zhou Xuan (1918-1957), bekannt als "die goldene Stimme"; sie erlangte als erste Sängerin und Schauspielerin das, was man heute als Superstar-Status bezeichnen würde. Von 1937, als sie ihre ersten Erfolge erzielt, bis zum Sieg der Kommunisten Maos Ende der 1940er Jahre nahm sie etwa 200 Lieder auf; ihre Bekanntheit verdankte sie allerdings den rund 40 Filmen, in denen sie auftrat - zumeist Musicals, deren spärliche Handlung oft nur ein Vorwand war, um während der 80 oder 100 Minuten ein Potpourri an Songs und oft auch Tanzeinlagen darzubieten. Weil es nur in Shanghai in jenen Jahren eine nennenswerte chinesische Filmindustrie gab (und auch nur dort Tonstudios für anspruchsvolle Plattenaufnahmen vorhanden waren), blieben die meisten Schauspieler und Musiker - anders als viele Schriftsteller und Publizisten - in der Stadt, auch nachdem die Japaner nach dem Kriegseintritt Ende 1941 die gesamte politische Kontrolle über die Stadt, mitsamt der drei "ausländischen Konzessionen" (der englischen, französischen und russischen) übernommen hatten. Das wurde gefördert, weil die japanischen Besatzer eine relativ freizügige Kulturpolitik verfolgten - um sich das Wohlwollen der gebildeten chinesischen Oberschichten zu sichern, und weil die eigene Präsenz vor Ort nicht ausgereicht hätte, um weitab der Kriegsfronten auf dem chinesischen Festland und im Pazifik eine rigoros repressive Politik durchführen zu können. Während der Zeit der japanischen Besatzung entstanden so rund 200 Filme, die sich bemüht von jeder politischen Stellungnahme, jeder Anspielung auf die Zeitverhältnisse fernhalten. Parallelen zur Situation im besetzten Paris genau jener Jahre liegen auf der Hand.

Über die Filme, in denen Zhou Xuan in dieser Zeit mitwirkte, schreibt Emily Yueh-Yu Ye in dem von Corey Creekmuir herausgegebenen Band "The International Film Musical" von 2012 im Kapitel "China":

"Zhou's screen persona was established in the leftist classic Street Angel (1937), in which she played an orphan singsong girl. [...] As a leading lady, she remained in Shanghai, working on a number of Japanese-backed China United Productions. Among these big-budget films, the most notable were several propaganda musicals directed by Fang Peilin, a prominent singsong director. These include Dancing Fairy (1943), Myriads of Colors (1943), Songs of Harmony (1944) and Songs of the Phoenix (1945). The first two were considered proper musicals with magnificent sets, grand balls and opulent costumes, while the other two starred Zhou Xuan, who enlivened the standard singsong conventions. Unfortunately, due to their status as collaborationist films, these films are yet to be made available to the public and researchers."
Fang Peilin drehte zwischen 1932 und 1948 vierzig Filme. Er war eigentlich Bühnenbildner; das erklärt, warum seine Filme soviel Wert auf opulente Ausstattung und Schauwerte legen; vielleicht wäre es nicht übertrieben, ihn als eine Art chinesischen Busby Berkeley zu sehen. Nach dem Ende der japanischen Besatzung floh er ins englisch verwaltete Hongkong, um den Kollaborationsvorwürfen der nationalchinesischen Kuomintang-Regierung zu entgehen. 1948 starb er dort im Alter von 40 Jahren an einem Herzanfall. 

Für den Film 鸾凤和鸣, Luán fèng hè míng (Lieder der Harmonie), läßt sich die Art der Kollaboration in der Inhaltsangabe ausmachen: einen jungem chinesisches Ehepaar, aus den verarmten Landgebieten in die Großstadt geflohen, werden durch die örtlichen chinesischen Behörden alle Chancen auf eine Zukunft genommen: die Talente und die Aussichten auf eine Musikkarriere (es handelt sich auch hier um einen Singsong-Film) verkannt und verbaut; und erst der selbstlose Einsatz eines japanischen Geschäftsmannes rettet das Eheglück und führt zu einem rauschenden Bühnentriumph. Um solche letztendlichen Trivialitäten soll es hier aber nicht gehen. Sondern, ganz konkret, um eines der Lieder, die in diesem Film gesungen werden, genauer: um das Stück, mit dem er beginnt - in jener hoffnungslosen Gegend, in der die Protagonisten gestrandet sind:  討厭的早晨, taoyàn de zaochén, "Ein schrecklicher Morgen". Text: Li Jungqing, Musik: Li Jinguang (1907-1993).



Der Text, dessen Inhalt von der schmissigen, fröhlichen Melodie komplett konterkariert wird, lautet nun:

糞車是我們的報曉雞 多少的聲音都跟著它起
前門叫賣菜 後門叫賣米

哭聲震天是二房東的小弟弟 雙腳亂跳是三層樓的小東西
只有賣報的呼聲 比較有書卷氣

煤球煙燻得眼昏迷 這是廚房裡的開鑼戲
舊被面飄揚像國旗 這是曬台上的開幕禮

自從那年頭兒到年底 天天的早晨總打不破這例
這樣的生活 我過得真有點兒膩

Das Lärmen des Karrens des Nachterdesammlers ist unser Hahnenschrei.
An der Vordertür rufen die Gemüsehändler, am Hintereingang der Reisverkäufer.
Der kleinste Bruder des Vermieters tobt wie dritten Stock wie ein Erdbeben.
Nur das Geschrei der Zeitungsverkäufer ist noch gräßlicher.
Die Kohlen qualmen und lassen die Augen tränen.
In der Küche lärmt es, als würde auf Gongs eingeschlagen.
Auf dem Balkon scheinen sie Jahrmarkteröffnung abzuhalten.
Das ganze Jahr lang, von Anfang bis Ende
ist es jeden Morgen das Gleiche.
Dieses Leben erschöpft mich wirklich allmählich.

("Nachterde" bezieht auf die in China bis dahin übliche Weise, den Inhalt von Nachttöpfen einzusammeln, um die Fäkalien als Dünger zu verwenden.) Die drei Eingangstakte stammen natürlich aus der "Morgenstimmung", dem ersten Satz von Griegs Peer-Gynt-Suite, op. 46, von 1875.

Die Inversion der gängigen bukolischen Motivik, der Fokus auf das Profane und gewollt Niedrige - auch im Shidaiqu überwiegen in den Texten die romantischen Evokationen des Mondlichts, der Blumen und dem Wind im Frühling und der Hoffnung auf den oder die Liebste - und die Parallelführung der Motivkette: das Räderrumpeln auf dem Pflaster als Morgenbote und der Radau, erst von Außenstehenden, dann von innen, als Signum "moderner Zeiten" - das legt eine Abhängigkeit nahe, die Philologen gern auf eine Einflußnahme schließen läßt, wo keine solche vorliegt. Man übersieht in diesem Metier gern, daß Dichtung sich nicht nur aus vorangegangener Poesie speist, sondern - in seltenen Fällen - sogar auf äußere Anregungen zurückgeht.



(Kinoplakat für den Film 鸾凤和鸣 von 1944.)

Um einen Eindruck von Inszenierungsstil dieses Films zu geben, hier die Schlusszene, jener Bühnentriumph nach den Kabalen um Auftritte und die Schwester der von Zhou Xuan gespielten Protagonistin, deren von Pocken gezeichnetes Gesicht ihre Karriere verhindert hat. Wem Parallelen zur Art und Weise, wie dergleichen zur gleichen Zeit in den Studios eines bestimmten Landes im Westen umgesetzt wurde - und die etwa in Frankreich oder in Hollywood nicht in dieser Weise erfolgte - darf gern wissend nicken. (Es handelt sich um eine Video-Aufzeichnung anlässlich der bisher einzigen TV-Ausstrahlung des Films im chinesischen Fernsehen von 2008 - von daher die Qualität der Bildaufzeichnung.)




    


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Ulrich Elkmann

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