27. April 2013

Hanns Martin Schleyer Preis für Helmut Schmidt: eine große Geste der Versöhnung und einige kleine persönliche Erinnerungen

Nach der streitbaren und umstrittenen Entscheidung der Theodor Heuss Stiftung, ihren diesjährigen Preis an Daniel Cohn-Bendit zu verleihen, gibt es aktuell eine weitere Preisverleihung, die nach einem Kommentar ruft, jedoch dem Inhalte nach ungleich versöhnlicher und begrüßenswerter:

Die Hanns Martin Schleyer Stiftung verleiht ihren diesjährigen Preis an Helmut Schmidt.

­Hanns Martin Schleyer und Helmut Schmidt. Zwei Namen, die auf einzigartige, schicksalhafte und unabänderliche Weise miteinander verbunden sind und bleiben werden. Sie hatten sich recht gut gekannt, der damalige Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Schmidt und der damalige Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) Schleyer; damals, vor der Entführung Schleyers durch das "Kommando Siegfried Hausner" der linksextremistischen Terrororganisation Rote Armee Fraktion (RAF) am 5. September 1977. 

Zum Zeitpunkt des sog. „Deutschen Herbstes“ war ich sieben Jahre alt. Meine Eltern hatten gerade die Zeit, zu der ich abends ins Bett gehen mußte, etwas verlängert, so daß ich nun die Tagesschau noch mitsehen durfte. Ich verfolgte die damaligen Vorgänge als Siebenjähriger durchaus mit einer gewissen Bewußtheit; ich betrachte sie heute als meine frühesten "politischen" Erinnerungen. Auch meine ersten „Flashbulb-Memories“ erlebte ich damals, jene merkwürdige Erinnerung an stark emotionale oder dramatische Ereignisse, bei der scheinbar Nebensächliches mit abgespeichert wird. So weiß ich beispielsweise noch genau, welche Kleidung ich am 11. September 2001 getragen habe, was ich mittags gegessen hatte usw. Ähnlich geht es mir mit dem Herbst 1977. Ich weiß noch genau, welchen Pyjama ich trug, als ich jenes elende Bild Schleyers sah, ein Pappschild in beiden Händen haltend, mit der Aufschrift „Seit 31 Tagen Gefangener“.

Die Entführung diente der Freipressung jener Gesinnungsgenossen, die seit 1975 im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart Stammheim einsaßen. Im Fall Lorenz hatte der Staat sich bereits einmal erpressen lassen und damit ein fatales Signal zu Lasten des Rechtsstaates gesendet. Diesmal, so zeigte sich Helmut Schmidt entschlossen, sollte der Staat sich nicht abermals erpressen lassen. Es war die vielleicht größte Prüfung, die der demokratische Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland bis dahin zu bestehen hatte, insbesondere, nachdem ein palästinensisches Terrorkommando  auch noch die Lufthansamaschine "Landshut" mit 82 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern entführt hatte, um die Forderung nach Freilassung der in Stammheim einsitzenden Gefangenen zu unterstreichen und den Druck auf die Regierung zu erhöhen.

Es muß eine entsetzliche Situation für Schmidt gewesen sein. Später verglich er sie einmal mit einer antiken griechischen Tragödie: von Beginn an sei klar, daß niemand ohne Schuld davonkommen würde.

Nicht Schuld im juristischen Sinne, diese trägt allein die Mörderbande der RAF, aber in einem sittlich-moralischen Sinne. Im Sinne eines unauflöslichen Dilemmas. Am Ende entschied er sich, im Benehmen mit der "Großen Lage", des parteiübergreifend zusammengesetzten Krisenstabes jener Tage, die "Landshut" durch die "Grenzschutzgruppe 9" der Bundespolizei, öffnen  und die Geiseln befreien zu lassen. Es gelang. Drei der vier Terroristen wurden getötet, alle Geiseln konnten lebend befreit werden. In derselben Nacht suizidierten sich in Stammheim die Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe. Irmgard Möller überlebte ihren Suizidversuch schwerverletzt.

Ich erinnere mich noch an die Sturmhauben, die die Polizisten der GSG 9 nach ihrer Rückkehr nach Deutschland am Flughafen trugen, um nicht erkannt zu werden. "Was für tolle Männer!" rief meine Mutter damals spontan aus. Ich erinnere mich auch, wie ich meinen Vater gefragt habe, warum Terroristen Menschen entführten und töteten, was ihre Gründe waren. Ich weiß noch, daß mein Vater versucht hat, es mir zu erklären und daß ich seine Erläuterungen damals nicht verstand. Ich nahm wohl an, ich sei dafür noch zu klein. An diesem Unverständnis hat sich jedoch bis heute nichts geändert, wenngleich ich auf abstrakter Ebene die Motive der Täter inzwischen natürlich kenne.

Es war wohl das Todesurteil für Schleyer. Er wurde am 18. Oktober 1977 von Mitgliedern der RAF ermordet; am 19. Oktober wurde seine Leiche im Kofferraum eines Autos im nordfranzösischen Mülhausen gefunden.

Auch dies eine Flashbulb-Memory: das Auto mit den doppelten Rundleuchten. Ich hatte in den Wochen der Entführung, im Rahmen der Möglichkeiten eines Siebenjährigen, Anteil am Schicksal dieses Mannes genommen. Ich weiß noch, wie mein Vater rief: „Diese Schweine“, und mein Blick fiel auf die grün ornamentierte 70er-Jahre-Tapete unseres Wohnzimmers.

Die Witwe Schleyers, Waltrude Schleyer, hat Schmidt seine Entscheidungen jener Tage bis zu ihrem Tod 2008 zum Vorwurf gemacht. Sie habe nie verstehen können, wie man ein Menschenleben habe opfern können, um "stark zu sein", sagte sie noch kurz vor ihrem Tod. Eine Haltung der persönlich Betroffenen, der unbedingt mit Respekt zu begegnen ist und die zu kritisieren sich niemand anmaßen sollte.

Umso größer und höher aber ist die Entscheidung der Familie Schleyer  einzuschätzen, Helmut Schmidt am 26.4.2013 mit dem Hanns Martin Schleyer Preis zu ehren. 1977 hatte der älteste Sohn Schleyers, Hanns Eberhard, vergeblich versucht, vor dem Bundesverfassungsgericht eine Freilassung der Terroristen zu erzwingen, um seinen Vater zu retten. Er sitzt heute im Vorstand der Stiftung. Eine Wunde, die der Terror des "Deutschen Herbstes" 1977 hinterlassen hatte, scheint sich endlich schließen zu können. Eine menschlich große Entscheidung. Im online einzusehenden Preisdokument heißt es:
Eine besondere Herausforderung für unseren Rechtsstaat
wie auch für Bundeskanzler Helmut Schmidt war das Jahr
1977. Die Unausweichlichkeit entscheiden zu müssen,
forderte besonders von ihm persönlich in kaum vorstellbarem
Maße Abwägung, Gewissensprüfung und Mut.

In Zeiten fast inflationärer "Ehrungen" und "Preisverleihungen" ist dies einmal eine wirklich große Geste.

Gratulation an die Jury, Gratulation an Helmut Schmidt.
Andreas Döding


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