18. September 2007

Randbemerkung: Eine Erinnerung an den Herbst 1977, aus gegebenem Anlaß

Oktober 1977: Nachdem die "Landshut" in Mogadischu gelandet war, standen Helmut Schmidt und der Krisenstab vor einer Entscheidung mit den folgenden Optionen und ihren möglichen Folgen:
Option 1: Die Stammheimer Häftlinge in ein Land ihrer Wahl ausfliegen. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Die Passagiere werden freigelassen.
  • Hanns-Martin Schleyer wird freigelassen.
  • Die Terroristen haben einen Erfolg errungen, der ihrer Organisation weitere Mitglieder zuführen, der sehr wahrscheinlich neue Entführungen nach sich ziehen wird.
  • Das Ansehen des Staats ist massiv beschädigt. Viele Bürger fragen sich, ob der Staat sie überhaupt noch gegen den Terrorismus schützen kann.
  • Option 2: Weiter hinhaltend taktieren. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Die Terroristen machen ihre Drohung wahr, die Geiseln, die sie bereits mit Alkohol übergossen hatten, durch das Zünden von Handgranaten zu ermorden.
  • Schleyer wird ermordet.
  • Die Aktion der Entführer ist gescheitert. Welche Folgen das für die weitere Entwicklung des Terrorismus haben wird, ist ungewiß - vielleicht Resignation, vielleicht eine weitere Brutalisierung der Terroristen.
  • Das Ansehen des Staates ist beschädigt, aber in erheblich geringerem Maß als bei der ersten Option. Es gibt eine öffentliche Diskussion darüber, ob man Schleyer und die Geiseln nicht durch Nachgeben hätte retten müssen.
  • Option 3: Den Versuch einer Befreiung der Passagiere durch die GSG 9 unternehmen. Die zu erwartenden Folgen wären gewesen:
  • Das Schicksal der Passagiere ist ungewiß. Im ungünstigsten Fall gelingt es den Terroristen, sie zu ermorden, bevor sie befreit werden konnten. Im günstigsten Fall werden alle Passagiere gerettet. Der wahrscheinlichste - jedenfalls vom Krisenstab offensichtlich als der wahrscheinlichste angenommene - Fall ist, daß die meisten Passagiere gerettet werden können, daß es aber Opfer unter ihnen und den GSG-9-Männern gibt.
  • Hanns-Martin Schleyer wird ermordet.
  • Die Terroristen haben eine schwere Niederlage erlitten. Wahrscheinlich wird sie das schwächen, möglicherweise aber auch nur dazu führen, daß sie danach auf Entführungen verzichten und nur noch Morde begehen.
  • Der Versuch der Terroristen, das Ansehen des Staats zu untergraben, ist gescheitert. Der demokratische Rechtsstaat geht gefestigt aus dieser Krise hervor.


  • Was sprach jeweils für, was gegen diese Optionen?

  • Unter dem Gesichtspunkt, Menschenleben zu retten, hätte der Option 1 der Vorzug gegeben werden müssen. Sowohl Option 2 als auch Option 3 bedeutete den Tod von Schleyer. Option 2 bedeutete außerdem den sicheren Tod der Passagiere, Option 3 den wahrscheinlichen Tod eines Teils der Passagiere.


  • Für die Option 3 sprachen allein Gesichtspunkte, die auf die zu erwartende zukünftige Entwicklung bezogen waren - was das Ansehen des Staats, was die Entwicklung des Terrorismus anbetraf.


  • Ob die Entscheidung für Option 3 statt für Option 2 tatsächlich Menschenleben retten würde, war ungewiß. Im ungünstigsten Fall hätte Option 2 mehr Menschenleben kosten können als Option 2 (nämlich nicht nur das der Passagiere und der Besatzung der "Landshut", sonderen auch noch das der eingesetzten GSG-9-Männer).



  • Unter dem alleinigen Gesichtspunkt, Menschenleben zu retten, hätte man sich für die Option 1 entscheiden müssen. Es sei denn, man hätte "aufgerechnet", wieviele potentielle Opfer von Entführungen vermieden werden könnten, wenn man jetzt einen oder möglicherweise viele Menschen opferte.

    Mit Bezug auf das GG hat damals der Sohn von Hanns- Martin Schleyer, Hanns- Eberhard Schleyer, im Namen der Familie beim BVG einen Eilantrag gestellt, der die Bundesregierung verpflichten sollte, die Stammheimer Häftlinge gegen Hanns-Martin Schleyer auszutauschen, um dessen Leben zu retten.

    Dieser Antrag wurde abgelehnt, in einer denkwürdigen Urteilsverkündigung, zu ungewöhnlicher Stunde. Kürzlich hat der damalige Vorsitzende, Ernst Benda, die Überlegungen des Senats noch einmal erläutert:
    Im Kern haben wir argumentiert, dass der Staat zwar verpflichtet war, das bedrohte Leben Schleyers zu schützen und zu bewahren. Er musste also alle geeigneten polizeilichen Mittel einsetzen, um ihn aufzufinden und zu befreien. Bei einer Verpflichtung zum Nachgeben auf die Forderungen der Entführer durch das Gericht hätte aber eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit bestanden, dass in künftigen Fällen die Reaktion des Staates berechenbar wird. Damit wären die nächsten Entführungen vorprogrammiert gewesen. Damit wäre nicht nur das konkret bedrohte Leben weiterhin gefährdet gewesen, sondern eine größere Zahl von weiteren Menschenleben. Ich halte diese Argumentation bis heute für zwingend und sehe keine Alternative, die erträglich ist.


    Das Gericht hat also damals dem Staat anheimgestellt, die Wahrscheinlichkeit, mittels Option 1 das Leben Schleyers zu retten, gegen die Wahrscheinlichkeit "aufzurechnen", daß dann weitere Entführungen mit weiteren Opfern zu erwarten wären.

    Ich denke, die Erinnerung an die damalige Situation, an die Entscheidung des Krisenstabs und an das Urteil des BVG könnten hilfreich sein für die momentane Diskussion über die Äußerungen von Verteidigungsminister Jung.

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