20. Juni 2007

Zieht Europa die Quadratwurzel! Und zwar radikal!

Wie stark eine Gruppe in einem Gremium, wie stark eine Fraktion in einem Parlament, wie stark ein Land in einer Ländervertretung ist, das hängt wesentlich davon ab, welche Koalitions- Möglichkeiten sie aufgrund ihrer numerischen Stärke haben. Darauf weist heute Wolfgang Münchau in der "Financial Times Deutschland" hin, in einem lesenswerten Beitrag zur Debatte über die künftigen Stimmgewichte im Europäischen Rat.

Man kann sich den Sachverhalt leicht an einem Beispiel klarmachen: Hat in einem elfköpfigen Gremium die Gruppe A, sagen wir, 5 Sitze, die Gruppe B 4 Sitze und die Gruppen C und D je einen Sitz, dann kann A mit jeder der drei anderen Gruppen eine Mehrheit organisieren, sie also gegeneinander ausspielen. In jeder dieser Kombinationen wäre es der Seniorpartner.

B kann hingegen nur auf eine einzige Weise eine Mehrheit organisieren - indem es mit C und D zusammengeht. Es könnte natürlich auch mit A zusammengehen, aber dann als Juniorpartner. Entsprechend schwach ist es in einer solchen Koalition.

Obwohl also A und B fast dieselbe Zahl von Sitzen haben, ist A ungleich mächtiger als B.



Solche kombinatorischen Überlegungen werden jetzt im Zusammenhang mit den EU-Verfassungsgesprächen angestellt. Sie dienen manchmal zu einer sozusagen mathematischen Rechtfertigung des polnischen Modells, vonach die Gewichte der Stimmen im Europäischen Rat gemäß der Quadratwurzel der Bevölkerungszahl verteilt werden sollten.

Ich halte das für äußerst fragwürdig, weil es den Charakter der Willkür hat. Wie auch schon die Gewichts- Verteilung im jetzigen Entwurf, der einfach die untransformierten Bevölkerungszahlen zugrundelagen, mit einem Quorum von 65 Prozent. Das kombiniert mit einer erforderlichen Mehrheit von 15 Staaten.

Solche Klimmzüge werden gemacht, um zwei Prinzipien unter einen Hut zu bringen: Irgendwie sollen einerseits alle gleich sein. Zweitens sollen aber die Großen doch gleicher sein als die Kleinen. Es kann ja nicht angehen, daß Malta auf den Gang der Dinge soviel Einfluß nimmt wie Frankreich oder Deutschland.



Das Problem ist alt, und es gibt eine alte Lösung dafür. Wieder einmal die der US-Verfassung. Im Senat ist jeder Bundesstaat mit zwei Senatoren vertreten, ein kleiner wie Vermont ebenso wie das riesige Kalifornien. Die Abgeordneten des Repräsentantenhauses dagegen werden in Wahlkreisen gewählt, die ungefähr gemäß der Bevölkerungszahl zugeschnitten sind.

Warum soll das nicht auf Europa übertragbar sein? Jedes Land entsendet zwei Senatoren in den Europarat, und die Abgeordneten des Europäischen Parlaments werden europaweit in etwa gleichgroßen Wahlkreisen gewählt. Ein Gesetz muß von beiden Gremien mit Mehrheit gebilligt werden, damit es angenommen ist.

Die Sache hat freilich einen Haken: Der Europäische Rat wird von Regierungen beschickt, nicht vom Volk gewählt. Und nach wie vor ist er das gegenüber dem Europäischen Parlament ungleich mächtigere Gremium.

Mit anderen Worten, Europa ist noch lange nicht weit genug zusammengewachsen, um das US-Modell übernehmen zu können. Ehrlicher wäre es, im Europäischen Rat überhaupt nicht abzustimmen, sondern ihn als eine Art Ständige Konferenz zu verstehen, in der man sich halt auf Regierungsebene diplomatisch einigen muß.

Wie auch sonst auf Konferenzen, wo die Starken ja auch ihre Stärke zum Tragen bringen können, ganz ohne ein kompliziertes und willkürliches Abstimmungs- Verfahren.

Der Europäische Rat ist nun mal kein parlamentarisches Gremium, und man kann ihn nicht dazu machen, indem man komplizierte Abstimmungsregeln einführt.




Nachtrag: Statt "Europäischer Rat" hätte ich korrekt "Rat der Europäischen Union" schreiben sollen. Siehe die sehr kompetenten Erläuterungen hier.

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