12. Mai 2007

Marginalie: Ein Freud'scher Versprecher der Kanzlerin?

Die europäischen Regierungschefs müßten gegenüber den Bürgern "Verantwortung ablegen", hat Angela Merkel in einem Statement gesagt, das die ZDF-"Heute"-Sendung soeben im Auszug brachte.

Ein schöner Versprecher. Sie meinte doch gewiß "Verantwortung übernehmen", nicht wahr? Aber - so wissen wir es ja von Meister Freud - insgeheim wünschte sie, sie könne diese Verantwortung ablegen. Und diese unterdrückte Intention, so sagt uns Freud, bricht sich dann doch Bahn; äußert sich wider Willen, wie ein neurotisches Symptom. Fertig ist der Versprecher, der Freud'sche.



Stimmt das? Vielleicht. Aber es ist eine reichlich verquere Erklärung. Denn Versprecher dieser Form kommen sehr häufig dadurch zustande, daß sich zwei Arten, denselben Gedanken zu formulieren, in die Quere kommen. Es sind Kontaminationen aus zwei möglichen Wortlauten, die dem Sprecher zur Verfügung stehen, wenn es gilt, den abstrakten Gedanken in eine sprachliche Form zu kleiden.

In diesem Fall hätte die Kanzlerin sagen können: "Die Regierungschefs müssen gegenüber den Bürgern Verantwortung übernehmen" oder "... müssen gegenüber den Bürgern Rechenschaft ablegen".

Das floß zusammen. Und fertig war der Versprecher, ganz ohne Hilfe von Meister Freud.